Text der Predigt am Sonntag, den 5. Juli

05.07.2020

PREDIGT zu Genesis 50, 15-21

Liebe Gemeinde,
immer wieder habe ich im Umfeld des Sterbens eines Menschen erlebt, dass die Frage von Schuld und Vergebung ein wichtiges Thema ist. An manchem Sterbebett wird noch einmal ganz ehrlich über Dinge gesprochen, die in der Vergangenheit falsch gelaufen sind. Es sind manchmal Dinge, die schon längst verziehen worden sind, aber im Angesicht des Todes passiert manchmal so etwas wie ein Wiederauferstehen alter Schuld. Dies ist, glaube ich, auch das heimliche Thema des für heute vorgeschlagenen Bibeltextes aus dem Alten Testament. Es geht um eine bewegende Szene aus dem Leben des jüdischen Stammvaters Josef. Bevor ich sie lese, muss ich aber zunächst einmal grob seinen Werdegang nacherzählen und was zu dieser Szene führte.

Mit dem Stichwort "Bevorzugung" fängt im Grunde genommen alles an. Dem alten Jakob wurde im hohen Alter nach zehn Söhnen noch einmal ein Nachzügler geschenkt. Und wie das so ist: Das Nesthäkchen wurde Papas Liebling und wurde von ihm regelrecht verhätschelt. Kleine Bevorzugungen und ausgewachsene Ungerechtigkeiten gaben sich die Hand und der Neid der Brüder auf Josef wurde immer bitterer.
(Vielleicht können das einige gut nachvollziehen, wie das ist, wenn immer die Geschwister bevorzugt worden sind. Da höre ich z.B. wie selbst ältere Menschen noch an solchen Geschichten knabbern und sagen:
"Ja, mein Bruder, der durfte damals studieren, ich aber musste hart ran und für die Familie sorgen" Oder "Ja, meine kleine Schwester bekam immer alles in den Schoß gelegt, was ich mir schwer erkämpfen musste. Und was am meisten weh tat: Für sie war auch immer ein bisschen mehr Liebe da als für mich.")

Bei den Brüdern von Joseph schlug der Neid in Hass um. Ihr Hass trieb sie soweit, dass sie einen fürchterlichen Plan schmiedeten und ihren Bruder mitten in der Wüste in eine leere Wasserzisterne warfen und ihn als Sklaven an eine vorüberziehende Händlerkarawane verschacherten. Endlich hatten sie ihn los - meinten sie. Aber wir kennen ja das alte Sprichwort, das sich bei ihnen bitter erfüllen sollte: "Man sieht sich im Leben immer zweimal."

Der Fortgang der biblischen Geschichte erzählt vom kometenhaften Aufstieg des Sklaven Josef im fernen Ägyptenland. Nach einigen Aufs und Abs brachte er es schließlich in die Position des zweitmächtigsten Mannes der Weltmacht am Nil. Es gelang ihm ein politischer und wirtschaftlicher Geniestreich: Er sah eine lange Hungersnot voraus und organisierte über Jahre hinweg eine solch geschickte Vorratshaltung, dass die Ägypter in den Dürrejahren dann nicht nur genug Korn für sich hatten, sondern auch noch an die ausgehungerten Nachbarvölker verkaufen konnten. Von überall her strömten die Menschen ins Nildelta und Josef hatte als Kanzler die Vollmacht über Wohl und Wehe der bettelnden Nomadenstämme zu entscheiden.
Und siehe da: Wer stand da eines Tages vor ihm? Seine Brüder. Sie bettelten bei ihm um ein paar Sack Korn. Sie erkannten ihn nicht, aber er erkannte sie. Wie sollte er auf das überraschende Wiedersehen reagieren? Es wäre ja eine Gelegenheit für Rache gewesen und Josef ließ seine Brüder tatsächlich erst einmal ein bisschen zappeln, indem er sie vor dem unbekannten Mann in Ägypten zittern ließ. Doch dann kam die Stunde, in der Josef sich zu erkennen gab und seine wahre Identität offenbarte.
Das Entsetzen erfasste die Brüder. Sie begriffen sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Über die alte Schuld war also kein Gras gewachsen. Ihr dunkle Vergangenheit hatte sie plötzlich eingeholt.
Doch Josef verblüffte sie komplett: Statt dass er ihnen ihre Schuld heimzahlte, ging er mit Tränen in den Augen auf jeden Einzelnen zu, nahm ihn in die Arme und sagte: "Bekümmert euch nicht und denkt nicht, dass ich auf Rache aus bin. Geht schnell zu unserem Vater nach Hause und erzählt ihm alles. Ich werde für euch sorgen."

Was für eine bewegende Szene! Wir können das tiefe Aufatmen fast noch hören, das damals durch diesen Raum gegangen sein muss. Ähnliche Momente haben wir vielleicht schon selbst erlebt. Vielleicht haben wir selbst einmal zu dieser Größe gefunden, jemanden aufrichtig vergeben zu können, der uns verletzt hat. Oder wir haben die Gnade erfahren, dass uns jemand einen unverzeihlichen Fehler dennoch verziehen hat.
Was für eine Befreiung kann von solch einer Vergebung ausgehen! Einen Schlussstrich unter die belastende Vergangenheit ziehen, Frieden finden, neu anfangen. So war das damals gewesen. Und das hätte ja eigentlich das schöne Happy-End der Josefsgeschichte sein können, aber es ist nun sehr interessant, dass die Geschichte weitergeht und noch einmal eine überraschende Wende erfährt.
Josef holte seinen Vater und seine ganze Sippe zu sich nach Ägypten. Doch dann starb der altersschwache Patriarch Jakob und plötzlich stand die alte Schuld wieder im Raum. Nicht Josef kramte sie heraus, sondern seine Brüder. Aber hören wir selbst:

15 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. 18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Was für ein spannender Fortgang wird uns da erzählt! Und ich frage mich: Warum gruben die Brüder diese längst vergebene Geschichte wieder aus und gewährten ihr gewissermaßen diese Wiederauferstehung?

Ich glaube, zunächst hat das einfach etwas mit dem Zusammenhang von Vergeben und Vergessen zu tun. Josef hatte ihnen zwar vergeben, aber vergessen war die alte Geschichte offenbar nicht. Sie lebte weiter in ihren Köpfen und Herzen.
So geht es ja auch uns allen immer wieder. Auch wenn wir anderen eine Schuld vergeben haben, so haben wir sie damit nicht vergessen und die Verletzung kann uns weiterhin immer noch plagen.
Oder auch umgekehrt: Wenn uns eine Schuld vergeben worden ist, so kann es uns manchmal schwer fallen, uns selbst zu verzeihen und die Schuld plagt uns weiter, obwohl sie uns schon längst von Gott und den Menschen vergeben worden ist. Immer wieder diese innere Selbstanklage: Hätte ich das doch nie getan!

Ähnlich muss es wohl den Brüdern von Josef gegangen sein. Der Tod des Vaters war sehr aufwühlend gewesen und in der Trauer denkt man ja sowieso ganz intensiv an die alten Geschichten und Erlebnisse zurück. Und da stand dann auch wieder diese dunkle Vergangenheit wie ein Schreckgespenst im Raum. Und mit dem Erinnern wurden auch erste Zweifel wach: Hat uns Josef damals wirklich ernsthaft vergeben oder vielleicht hat er es nur unserem Vater zuliebe getan? Und jetzt wo er tot ist, besinnt er sich eines anderen und übt plötzlich Rache an uns?
Das Wiederauferstehen alter Schuld. Dieses Phänomen habe ich, wie am Anfang schon angedeutet, in der Seelsorge immer wieder erlebt. Rund um den Tod eines Menschen ist das oft ein Thema. Aber auch sonst begegnet mir das immer wieder, dass Menschen einfach keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen können. Gerade in christlichen Gemeinden habe ich das oft erlebt. Da taucht ein Konflikt auf und urplötzlich werden dann wieder die alten Geschichten von Verletzungen und Schuld aufgewärmt. Wie Gespenster geistern sie plötzlich wieder durch das geschwisterliche Miteinander. Als Unbeteiligter kann man dann manchmal nur noch verblüfft mit dem Kopf schütteln, weil man gedacht hat: Das alles ist doch schon längst vergangen und überwunden! Aber nein, es spukt offenbar immer noch in den Köpfen und Herzen herum.

Dieses Phänomen erleben wir in der Gemeinde, aber auch in der Verwandtschaft oder im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder der Schule und auch in unseren Partnerbeziehungen und in der Ehe. Ja, vor allem dort, wie oft entfaltet sich diese Dynamik der Auferstehung alter Schuld in unseren Ehen!
Kennen sie das? Da kommt es wegen einer Kleinigkeit zu einer kleinen Differenz, aber statt man das vernünftig klärt, eskaliert plötzlich die ganze Situation. Der eine: "Das machst du schon immer so!" Die andere "Damit hast du mich schon damals verletzt!" Und dann beginnt man die alten Geschichten wieder auszugraben und sich an den Kopf zu werfen.

In der Paartherapie spricht man dabei sehr treffend vom sogenannten "Museum der Verletzungen", durch das sich Paare manchmal in Auseinandersetzungen zerren. Sorgfältig hat man in diesem Museum all die erlebten Enttäuschungen aufbewahrt und katalogisiert. Und kommt es zu einem akuten Konflikt, öffnen sich plötzlich die Pforten dieses Museums und man erschrickt darüber, was da plötzlich zu Tage kommt. Manche Schuld meinte man schon längst ausgesprochen und vergeben zu haben und trotzdem führte sie weiterhin ein Schattendasein im Unterbewussten. Und das gilt erst recht für das, was wir noch gar nicht angesprochen, bearbeitet oder gar vergeben haben.

Die entscheidende Frage ist: Wie wird man dieses giftige Zeug wieder los? Wie finden wir endlich zu wahrem Frieden? In unseren Ehen und Beziehungen, in unserer Verwandtschaft, in der Nachbarschaft, in der Gemeinde, am Arbeitsplatz oder wo auch immer? Wie bringen wir es fertig, uns so zu vergeben, dass wir danach dieses Museum der Verletzungen wirklich schließen können?

Ich habe keine Patentlösung. Aber unser Predigttext zeigt mir zwei Ansatzpunkte.

1. Durch ehrliche Aussprache
Ja, es war gut, dass die Brüder das Thema noch einmal angesprochen haben. Es war richtig, dass sie den Mut hatten, über das zu sprechen, was sie noch immer quälte. Sie hatten es gewagt, ehrlich über ihre Gefühle und Ängste zu sprechen. Und genau das müssen wir auch wagen, wenn wir unser Museum der Verletzungen schließen wollen.

Durch Augenschließen und so tun, als ob es das Verletzende nie gegeben hätte, kommen wir nicht weiter. Nein, wenn wir merken, dass uns Dinge immer wieder quälen, dann muss es einfach noch einmal zur Sprache kommen. Manchmal müssen wir uns einfach an die Hand nehmen und mutig durch unser gemeinsames Museum der Verletzungen führen. Einfach noch einmal hinschauen und uns dessen bewusst werden, was war und was das mit uns gemacht hat. Nicht bewerten, sondern einfach dessen bewusst werden. Und dann - ja, was dann? Dann sollten wir uns höflich von jedem einzelnen Stück dieser Antiquitätensammlung verabschieden. Und bildlich die Pforten dieses Museums schließen. Und den Schlüssel am besten in den Gulli der Vergangenheit kicken. Nur so kann eine befreite Zukunft beginnen. Manchmal müssen wir uns einfach noch einmal vergeben, was wir uns zugemutet und angetan haben. Und dann wirklich einen Schlussstrich ziehen.

2. Die Vergangenheit vor Gott und mit Gott neu bewerten
Hier müssen wir die Vergebung, die Josef ausgesprochen hat, genauer anschauen. Das Entscheidende daran war: Es war eine Vergebung im Namen Gottes. Es war nicht so ein: "Also, ich vergeb dir, glaub mir, ich meine es aufrichtig." Nein, Josef begründete seine Vergebung und zwar mit folgenden Worten: "Habt keine Angst, ich werde doch nicht wieder rückgängig machen, was Gott selbst entschieden hat. Ihr wolltet mir Böse tun, aber Gott hat daraus Gutes entstehen lassen und erreicht, dass dadurch viele Menschen gerettet wurden."

Josef begründete also seine Vergebung nicht in seinem Willen oder seinem Gutdünken, sondern er verankerte seine Vergebung in Gottes Handeln.
Josef hatte nachgedacht. Josef hatte zurück geschaut. Josef hatte resumiert, was durch das Unrecht von damals alles geschehen ist und er musste mit Staunen feststellen, dass Gott genau aus diesem schlimmen Unrecht, das ihm zugefügt worden war, Gutes hat entstehen lassen. Gott hat dieses zwielichtige Gelände von Bevorzugung, Neid, Hass und Schuld in sein Heilshandeln einbezogen und es fertiggebracht, daraus etwas Gutes entstehen zu lassen. Gott hat aus Unrecht Segen bewirkt. Aus Mist Dünger gemacht.
"Gott kann aus allem, auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen." So fasste es einmal Dietrich Bonhoeffer zusammen. "Dazu braucht er Menschen," so fährt er fort, "die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen."
Das ist eigentlich wie eine Zusammenfassung von Josefs Leben.
Gott hat auf krummen Linien gerade geschrieben. Und genau das hat Josef erkannt. Und nach diesem Erkennen konnte er doch jetzt nicht einfach wieder die alte Schuld der Brüder herauskramen und an den Pranger stellen. Er würde doch damit Gottes Heilshandeln rückgängig machen, er würde Gott kränken und betrügen! Darum vergab Josef, weil Gott vergeben hatte. Und nicht nur das, Gott hat aus der alten Schuld sogar noch etwas Gutes entstehen lassen.

Schau in dein Leben. Schau ehrlich an, was Gott aus manchem gemacht hat, woran du schlimm zu kauen hattest. Schau, was selbst aus Fehlern der Vergangenheit werden durfte.
Werde dankbar für Vergebung, die du empfangen durftest und werde dankbar für Vergebung, die du weitergeben durftest. Und sei gnädig - mit anderen, die dir zu schaffen machen und mit dir selbst. Wenn es sein muss, dann vergib noch einmal oder lass dir zum zweiten Mal vergeben, aber dann muss Schluss sein. Denn Gott meint es gut. Amen

 

 

 

Zurück