Text der Predigt am Sonntag, den 26. Juli
26.07.2020
PREDIGT zu Hebräer 13, 1-3
1 Bleibt fest in der brüderlichen Liebe. 2 Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. 3 Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten, weil auch ihr noch im Leibe lebt.
Liebe Gemeinde,
darf ich am Anfang ein wenig jammern und klagen?
Ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Aber mir macht diese Corona-Zeit mit ihren einschneidenden Lebensveränderungen auf die Dauer immer mehr zu schaffen. Mir fehlen einfach die vielen sozialen Kontakte von früher und die ganz normalen Begegnungen. Am Anfang konnte ich ja diesem Rückzug auf meine eigenen vier Wände noch etwas Gutes abgewinnen. Eine Chance zur Einkehr und Besinnung, schrieb ich in einer Andacht. Aber nach ein, zwei Monaten hätte es damit ja auch wieder gut sein können.
Was war das für eine Freude für mich, als wir im Mai dann endlich wieder die ersten Präsenzgottesdienste feiern durften. Freude - aber auch Ernüchterung. So schön, die Geschwister aus der Gemeinde wieder zu sehen, aber doch versteckt hinter Masken und mit 2m Abstand und eben nur einige von ihnen. Und das Schwerste: Nach dem Gottesdienst kein fröhliches Plaudern und Begegnen, kein Händeschütteln und Kirchenkaffee, sondern gedämpftes Aufbrechen in unsere privaten Welten hinein.
Klar, es gab einige Lockerungen in letzter Zeit. Unsere Begegnungen wurden etwas unverkrampfter. Die Gottesdienste sind gut besucht und fühlen sich ein bisschen normaler an - trotz Abstand und strenger Hygieneregeln. Aber von echter Normalität sind wir doch, ehrlich gesagt, immer noch ziemlich weit entfernt. Und unter dem Strich muss ich sagen: Gemeinde ist für mich seit 4 Monaten nicht mehr ganz das, was sie ein Leben lang für mich war: Eine Kirche voller Begegnungen, ein Kommen und Gehen von Jung und Alt, Musik, Singen, Kinderlachen. Stattdessen nun "social distancing" - Distanz wahren - auf allen Ebenen.
Übrigens gilt das nicht nur in der Gemeinde. Ich habe in letzter Zeit mit vielen Menschen gesprochen, denen es wirklich schlecht geht und denen diese Vereinsamung ernsthaft zu schaffen macht. Und das macht sie depressiv, aber auch gereizter, wie ich finde. Ja, mir begegnet auch insgesamt ein immer angespannteres gesellschaftliches Klima. Nicht nur bei solchen Auswüchsen wie am Opernplatz oder in Stuttgart, sondern wirklich auch beim Einkaufen im Supermarkt oder auch im Straßenverkehr, ja selbst vor den Gemeinden scheint das nicht Halt zu machen. Unsere Superintendenten schrieben in ihrem letzten Corona-Newsletter, dass es in einigen Gemeindebezirken momentan heftige Spannungen gibt. Und das alles ist eben gut verständlich auf dem Hintergrund unserer allgemeinen Lebenssituation. Dieses Leben in der Unsicherheit, wie es weitergeht. Niemand kann uns wirklich sagen, wie sich die ganze Coronasituation in den nächsten Monaten entwickelt. Es kann besser werden, aber auch ganz schlimm. Und diese Ungewissheit zermürbt uns auf Dauer und macht uns gereizt und aggressiv.
So, jetzt ist aber genug gejammert.
Warum sage ich das alles? Mir ist bei der Vorbereitung auf diese Predigt wichtig geworden, dass Gott durch unseren Predigttext ganz sicher doch auch etwas in unsere aktuelle Lebenssituation hinein sagen möchte. Aber was für eine Botschaft könnte das sein? Dieser Frage möchte ich nicht ausweichen. Aber um Antworten zu finden, müssen wir erst einmal verstehen, was diese Hebräerverse damals, als sie geschrieben worden sind, in ihrer aktuellen Situation deutlich machten.
Und dazu müssen wir uns jetzt erst einmal eine christliche Gemeinde vorstellen in den Jahren 70-80 nach Christi Geburt, wahrscheinlich in Rom, wie manche Ausleger vermuten. 70-80 nach Christus - Das heißt, das war nicht mehr die erste Generation von Christen gewesen, die Paulus z.B. noch in seinen Briefen vor sich sah. Diese Gemeinden, etwa in Korinth oder in Thessaloniki, das waren alles neugegründete Gemeinden gewesen. Da gab es lauter Menschen, die ganz frisch zum Glauben gekommen waren und die vor Begeisterung für Jesus Christus und für die Gemeinde brannten. Ähnlich wie es uns eben in der Schriftlesung von der Urgemeinde erzählt worden ist. Diese ersten Gemeinden waren voller Dynamik - und zwar im positiven Sinn, dass es da viel Bewegung und Leidenschaft gab, aber auch im negativen Sinn, dass man sich in manche Auseinandersetzungen über den richtigen Weg verstrickte.
Nun müssen wir uns aber bewusst machen, dass die Situation der Gemeinde, die der Hebräerbrief im Blick hatte, eine veränderte war. Wir müssen uns vorstellen, dieser Brief entstand etwa 30-40 Jahre nach den ersten christlichen Aufbrüchen. Er richtete sich an eine schon eher fest situierte Gemeinde. Und da brannte und bewegte sich eben nicht mehr so viel wie in der Zeit der ersten Liebe. Diese Gemeinde war eher lau und träge geworden. Die Liebe zu Jesus und zueinander war längst nicht mehr so frisch und herzlich wie am Anfang, und man übte sich darum auch mehr und mehr im "social distancing". Kein von oben verordnetes Distanz-halten wie bei uns, sondern ein schleichendes inneres "Auf Distanz gehen". So hören wir z.B. in Hebr. 10, 25 die deutliche Mahnung, "dass man aufhören soll, sich aus den Gottesdiensten zurückzuziehen, wie es für manche schon zur Gewohnheit geworden ist." Und in 10, 24 findet sich der Apell, "sich wieder mehr umeinander zu kümmern und sich zur Liebe und zu guten Taten anzuspornen." Das war also das Grundproblem dieser Christen der zweiten Generation, dass sie müde und träge geworden waren in ihrer Liebe zu Jesus und zur Gemeinde. Dass sich so eine innere und äußere Distanz eingeschlichen hatte in ihren Glauben und in ihr Miteinander.
Und wenn wir das wissen, dann können wir den ersten Vers unseres Predigttextes schon etwas präziser hören in seiner Aussageabsicht. "Bleibt fest in der geschwisterlichen Liebe."
Er ist so etwas wie die Überschrift über die folgenden Verse.
"Philadelphia" ist das griechische Wort, das hier steht. Das heißt wörtlich "Bruderliebe", wobei damit automatisch beide, die Frauen und Männer gemeint waren. Wir müssen uns also bewusst machen: Hier ist nicht die allgemeine Nächstenliebe angesprochen, also auch die Liebe zu den Menschen außerhalb der Gemeinde, sondern hier wird ganz konkret die Liebe eingefordert zwischen den Menschen, die zur Gemeinde gehören, den Brüdern und Schwestern in Jesus Christus.
"Bleibt in der Philadelphia" heißt es. Das bedeutet, diese geschwisterliche Liebe musste gar nicht neu erfunden oder gefunden werden. Nein, sie war von Anfang an da gewesen, sie war von Anfang an ein besonderes Merkmal dieser Gemeinschaft gewesen.
Man muss davon ausgehen, dass diese Gemeinde, die der Hebräerbrief im Blick hat, wohl schon ein schlimme Verfolgungswelle hinter sich hatte. Vielleicht unter Kaiser Nero. Und in dieser Verfolgung ist in allem Leid die Philadelphia ganz stark gewesen. Man hat sich umeinander gekümmert, füreinander gebetet, hat zusammengehalten, hat die Leitragenden versorgt und unterstützt. Da war ein ganz starkes Band der Liebe zwischen ihnen gewachsen. "Haltet an diesem Band fest!" ruft ihnen nun der Hebräerbrief zu.
Und ich glaube, das ruft er uns auch heute zu als Gemeinde der Neuzeit mitten in der Coronakrise. Als Gemeinde in Neuenhain. "Bleibt weiterhin fest in dieser geschwisterlichen Liebe, die euch kennzeichnet" Lasst euch von dieser Coronakrise nicht abbringen von der Verbundenheit, die Jesus Christus unter euch geschaffen hat.
Wir haben uns diese Krise nicht rausgesucht. Und ich glaube auch nicht, dass sie uns von Gott verordnet worden ist - höchstens zugelassen.
Aber wir dürfen nun nicht zulassen, dass sie unsere Philadelphia schwächt und zerstört. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese äußere Distanz, die uns verordnet ist, eine innere Distanz zueinander schafft. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Klima der Gereiztheit unsere Beziehungen beschleicht. Wir dürfen nicht zulassen, dass es wie in der Hebräerbriefgemeinde zur Gewohnheit wird, die Gottesdienste nicht mehr zu besuchen. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Liebe zu Jesus abkühlt, weil wir wie einzelne Holzscheite aus dem Feuer der wärmenden Gemeinschaft gerissen worden sind. "Bleibt fest in der Philadelphia!" ruft uns der Hebräerbrief zu, "erinnert euch daran, wie die Liebe bisher so stark war und lebt diese Liebe auch heute, auch wenn sich die äußeren Umstände verändert haben!"
Zwei Beispiele werden uns dann in unserem Predigttext genannt, wo diese Liebe ganz konkret werden soll: In der Gastfreundschaft und in der Fürsorge für die Gefangenen.
1. Gastfreundschaft.
Das war im Orient und auch allgemein in der Antike ein ganz wichtiges Gut. Und auch für Christen war Gastfreundschaft eine selbstverständliche Tugend. Nur so konnte sich übrigens auch der christliche Glaube ausbreiten. Die Herbergen der damaligen Zeit waren schmutzig, enorm teuer und besaßen einen schlechten Ruf. Die Christen, die als Missionare und Prediger durch die Landschaft reisten und das Evangelium verbreiteten, waren darauf angewiesen, dass sie in den Privathäusern und Familien der Gemeinden Unterschlupf fanden. So hatte also die Aufforderung des Hebräerbriefes zur Gastfreundschaft auch diesen ganz praktischen Grund gehabt, dass sie damit die Ausbreitung des Evangeliums unterstützten. Vielleicht heißt deshalb heute Gastfreundschaft für uns, dass wir auch überlegen, wie wir in der Coronakrise weiterhin kirchendistanzierte Menschen mit dem Evangelium erreichen können, z.B. dadurch dass unsere Gottesdienste über das Internet übertragen werden. Eine wahrlich neue Form der Gastfreundschaft.
Zum zweiten nennt unser Predigttext als guten Grund für die Gastfreundschaft: "...dass dadurch schon etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt haben."
Den Bibelkennern fallen da natürlich sofort manche Geschichten aus dem Alten Testament ein. Etwa die von Sara und Abraham, denen Gott in Form von drei Männern begegnete, die sie aufnahmen. Oder die von Manoah, der auch unwissentlich einen Engel Gottes bei sich aufnahm, der ihm dann die Geburt seines Sohnes Simson ankündete. Oder denken wir an Lot, der in Sodom unwissentlich zwei Botschafter Gottes bei sich aufnahm, die ihn dann aus der untergehenden Stadt Sodom retteten.
Gott kann uns also durch gewährte Gastfreundschaft auf eine ganz besondere Art und Weise beschenken. Uns selbst, die wir durch die Gäste Segen empfangen, aber auch die Gäste, die durch uns Segen empfangen. So haben das jedenfalls Menschen zu allen Zeiten erlebt. Gastfreundschaft zahlt sich immer aus. Wir werden dadurch nicht ärmer, sondern reicher. Und sie ist unter Christen ein ganz besonderer Ausdruck der Philadelphia.
Wie können wir aber diese Gastfreundschaft momentan konkret umsetzen, wo es uns ja geradezu verboten ist, zu viel Nähe zu Menschen zu pflegen. Wahrscheinlich muss sie momentan auch andere Formen annehmen:
Da denke ich z.B. an eine Frau, die seit April im Homeoffice arbeitet. Vorher haben sie im Büro zusammen gesessen in ihrem zwölfköpfigen Team, wo man auch recht private Dinge immer wieder erzählt hat. Und dabei ist diese Frau auch ein wenig zur Seelsorgerin für manche Kollegen geworden. Das ist natürlich jetzt durch Corona abgebrochen. Sie treffen sich nur noch telefonisch zu Telkos, wo man ausschließlich geschäftliche Dinge bespricht. Deshalb hat diese Frau begonnen, auch bewusst außerhalb der Geschäftszeiten zum Telefon zu greifen und besonders die eine Kollegin anzurufen, von der sie weiß, dass sie ziemlich einsam und psychisch nicht sehr stabil ist. Und wie freut die sich darüber!
Das ist nichts Spektakuläres, aber ich denke, das ist eben die momentane Form, wie wir Gastfreundschaft leben können. Durch das Telefon. Und ich weiß, dass ganz viele Geschwister aus unserer Gemeinde das praktizieren. Und das ist gut so. Das bringt Segen. Nicht nur für die, die angerufen werden, sondern auch für die, die sich auf diese Art um andere kümmern. Wir werden einander zu Engeln.
2. Sorgen für die Gefangenen
Als zweite Konkretion von Philadelphia wird uns schließlich in unserem Predigttext das Kümmern um die Gefangenen genannt.
Natürlich fällt uns bei diesem Stichwort sofort Open Doors ein oder auch andere Organisationen, die sich um die kümmern, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Es ist gut, dass es diese Werke gibt und es ist ein ganz wichtiger Ausdruck unserer Philadelphia, dass wir für die Verfolgten beten und sie über solche Wege unterstützen.
Darüber könnte ich jetzt weiterreden. Aber ich wollte ja auch fragen, wo uns unser Bibelwort etwas besonders zeigen könnte in der augenblicklichen Coronasituation. Und da ist mir bewusst geworden, dass sich ja im Moment auch ganz viele wie Gefangene in ihren vier Wänden fühlen. Ich denke an so viele Bewohner in Altenheimen oder Krankenhäusern, die monatelang keinen Besuch bekommen durften. Das ist richtig belastend. Für die Betroffenen, aber auch für die Angehörigen. Mir wird durch unseren Predigttext bewusst, wie wichtig es ist, dass wir sie momentan in ihrer besonderen Situation nicht vergessen.
Wem kannst Du vielleicht in der kommenden Woche ein Zeichen schenken, dass du ihn oder sie nicht vergessen hast? "Denkt an die Mitgefangenen".
Lasst mich zum Schluss eine kleine Episode von jemanden erzählen, der einen richtig netten und kreativen Weg gefunden hat, um Menschen eine Freude zu bereiten, die sich wegen Corona und Lockdown vielleicht zuhause wie eingeschlossen fühlen. Das ist Siegfried Boiar mit seinem Tenorhorn. Er hat in der Coronazeit angefangen, einfach ab und zu abends bei geöffnetem Fenster eine kleine Abendserenade zu spielen. Das konnte von den Menschen rings um seinem Wohnblock gut gehört werden. Volkslieder, Abendlieder, auch den einen oder anderen Choral. Und es haben sich unter seinem Fenster immer Leute eingefunden, die da gern zuhörten, Kinder, Erwachsene, Jung und Alt. Es ist inzwischen fast zu einer festen Einrichtung geworden, dass Siegfried zwei-, dreimal in der Woche seinen Bariton erklingen lässt. Irgendwie musste ich beim Bedenken unseres Predigttextes auch an ihn denken: Ist das nicht eine sehr charmante Art, sich um die "Zuhause durch Corona Gefangenen" zu kümmern? Ich denke schon.
Bleibt fest in der Philadelphia, liebe Schwestern und Brüder! Lasst uns einfach in dieser Woche kreativ werden, wie wir das im Namen Jesu konkret umsetzen können. Amen