Text der Predigt am Sonntag, den 2. August

02.08.2020

PREDIGT zu Johannes 9, 1-7

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden 7 und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Liebe Gemeinde,

diese Heilungsgeschichte hat mich schon immer sehr beschäftigt, weil es darin ja nicht nur um die Heilung eines Menschen geht, sondern auch um die Warum-Frage. Warum hat dieser arme Mensch dieses fürchterliche Los zu tragen gehabt, von Geburt an blind zu sein? Die Jünger stellten diese Frage Jesus, ihrem Rabbi und Lehrer und sie wollten wohl darüber eine spannende theologische Diskussion führen. Für den Blindgeborenen war das aber keineswegs eine nette Diskussionsfrage gewesen, sondern das existenzielle Thema seines Lebens. Die Frage nach dem Warum, Woher und Wozu seiner Behinderung und seines leidvollen Lebens. Ich glaube, dass diese Frage irgendwo alle Menschen beschäftigt und es ist außerordentlich wichtig zu verstehen, welche Antworten Jesus diesem Blindgeborenen gegeben hat.

Zunächst müssen wir dazu eines bewusst machen: Die Jünger stellten ihre Frage auf dem Hintergrund der damals üblichen Denkkategorien. Wer ist schuld daran, dass dieser Mann blind geboren ist? Er selbst oder seine Eltern?
Das war in der jüdischen Theologie das übliche Denkmuster gewesen: Krankheit ist immer Folge einer konkreten Schuld. Unser Ergehen ist Folge unseres Tuns. Wem etwas Schlimmes widerfährt, der muss zuvor auch etwas Schlimmes angestellt haben. Dieses Denkschema ließe sich auch mit zahlreichen Bibelstellen aus dem Alten Testament untermauern. Die Theologen nennen das heute: Tun-Ergehen-Zusammenhang.

Was erstaunlich ist: Auch in unserer säkularisierten, entkirchlichten Welt spüren wir, wie dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang immer noch unser Denken prägt. Klar, denn es ist viel Wahres dran. Auch für die Wissenschaft ist es unstrittig, dass es tiefere Zusammenhänge gibt zwischen Leiden und Schuld. Z.B. malt uns die Medizin vor Augen, das falsche Ernährung Ursache von vielen Krankheiten ist. Und als Raucher brauchst du dich nicht zu wundern, wenn du eines Tages an Krebs erkrankst. Und selbst das Baby im Mutterleib hat unter Umständen daran zu leiden, wenn sich die Mutter während der Schwangerschaft falsch verhalten hat.
Wer ist schuld? So weit hergeholt ist also auch für uns heute diese alte theologische Frage der Jünger gar nicht.

Bei dem Blindgeborenen aus unserer biblischen Geschichte war diese Schuldfrage allerdings noch etwas komplizierter. Er kam ja schon als Behinderter auf die Welt. Was kann er da schon falsch gemacht haben? Das war damals in den theologischen Schulen eine häufig diskutierte Streitfrage. Denn, wenn man davon ausgeht, dass Krankheit immer auf Schuld schließen lässt, wo lässt sich die Schuld bei einem Neugeborenen festmachen?

Es gab zwei Antwortmodelle:
Es gab die einen, die behaupteten, dass eben schon ein Kind im Mutterleib sündigen kann, und wenn es das tut, dann kommt es eben behindert auf die Welt. - Ein haarsträubender Gedankengang.
Das andere Antwortmodell ist da schon etwas einsichtiger: Nicht das Kind hat gesündigt, sondern die Eltern. Und die Konsequenzen der elterlichen Schuld muss nun das Kind ausbaden.

Beide Antwortmodelle haben das eine gemeinsam: Sie gehen von einem eindeutigen Zusammenhang von Schuld und Leid aus. Und wir müssen uns noch einmal klar machen, dass dieses sogenannte Kausalitätsdenken immer noch in unserem modernen Denken und Fühlen eine wichtige Rolle spielt. Für uns schwingt dieses Kausalitätsdenken z.B. mit, wenn wir angesichts des Leids eines Menschen fragen: Womit hat er oder sie das nur verdient! Er oder sie war doch so ein guter Mensch, wie kann ihm da so etwas passieren? Oder: Warum gerade ein Kind, das doch noch niemandem weh getan hat?
Wir spüren bei solchen Aussagen, dass uns dieses Kausalitätsdenken immer noch zutiefst zu eigen ist. "Womit habe ich das nur verdient?" fragen unzählige Menschen, wenn es ihnen schlecht geht.

Im Krankenhauszimmer lag neben meiner verstorbenen Frau einige Zeit eine Patientin, die ebenso wie sie Chemotherapie bekam. Und diese Frau wollte immer alles genau wissen, was da in der Therapie passiert und auf was sie besonders achten muss. Und sie fragte bei jeder Visite den Ärzten Löcher in den Bauch. Das hatte Angelika einerseits imponiert, weil diese Frau sich nie mit einfachen Antworten abspeisen ließ. Andrerseits merkte sie aber dann im Gespräch mit dieser Frau immer mehr, wie viel Angst da in ihr war. Angst davor, dass sie im Umgang mit der Krankheit etwas falsch machen könnte, was dann fatale Folgen hätte. Und noch mehr als das: Diese Frau quälte eigentlich zutiefst das Gefühl, dass sie selbst schuld war an ihrer Krebserkrankung. Sie hatte einfach nicht gesund genug gelebt und darum ist sie krank geworden. Sehr eindrücklich war deshalb für Angelika gewesen, wie der Chefarzt am Ende einer Visite auf die medizinische Neugier dieser Frau plötzlich reagierte: Er schüttelte energisch mit seinen Zeigefinger und sagte: Frau Maier (ich verändere hier natürlich ihren namen), sie sind nicht schuld. Sie sind nicht schuld!
Und er hat mit diesem Satz wahrscheinlich genau den Nerv dessen getroffen, was diese Frau am meisten quälte.
Und nicht nur diese Frau: Ich glaube, dass das auch unzähligen anderen Menschen in ihrem Leid noch zusätzlich zu schaffen macht. Sie fühlen sich auch noch verantwortlich und schuldig für ihre Misere. Hätte ich doch nur! Warum habe ich nicht?
Der Chefarzt insistiert deshalb ganz eindringlich dreimal: Sie sind nicht schuld!

Und genau das war auch die Erkenntnis, die Jesus damals diesem Blindgeborenen eröffnete. "Weder er noch seine Eltern haben gesündigt" Dieses Verhaftetsein in vermeintlicher Schuld war für ihn wie ein Gefängnis, in das er zeitlebens eingesperrt war. Und in diesem Gefängnis flüsterte ihm unaufhörlich diese fiese Stimme zu: "Du bist zurecht so behindert wie du bist! Du hast es nicht anders verdient!"
Und manchen Menschen geht es da ähnlich. Sie fragen vorwurfsvoll oder verzweifelt: Warum bin ich so wie ich bin? Warum muss ich mit dieser körperlichen oder seelischen oder familiären Belastung leben? Warum können die anderen so unbeschwert sein und ich drohe am Leben zu zerbrechen? Warum muss ich dieses schwere Los tragen? Und oft schwingt mit dieser Frage der stumme oder laute Schrei mit: Was habe ich nur falsch gemacht?

Und alle, die diese verurteilenden inneren Gewissensbisse kennen, können auch diesen Blindgeborenen bestens verstehen, der sich so falsch und schuldig fühlte.
Aber vielleicht können sie auch gut verstehen, was für eine Erlösung und Befreiung dann die Antwort Jesu für ihn war. "Weder dieser noch sein Eltern haben gesündigt, -niemand ist schuld- sondern an ihm sollen die Werke Gottes offenbar werden."
"Du bist nicht schuld daran, dass du so bist wie du bist. Und auch deine Eltern sind nicht schuld. Es gibt gar keine Schuld, die zu deiner Behinderung geführt hat." Mit diesem Statement hatte Jesus wie mit einem ersten Lichtstrahl dieses schicksalshafte Dunkel durchbrochen, das über seinem Leben lag. "Du bist nicht schuld."

Warum kam er dann aber blind zur Welt? Jesus sagte: Damit an ihm die Werke Gottes offenbar werden.

Diese Aussage könnte jetzt fürchterlich missverstanden werden in dem Sinn: Gott hat zuerst diesen Menschen behindert werden lassen, damit Jesus ihn heilen kann und alle Leute dann über seine Wunderkraft staunen. Solch ein Verständnis würde Gott wahrlich sadistische Züge zuschreiben. Ein Gott, der erst einen Menschen leiden lässt, um ihn dann als Demonstrationsobjekt zu missbrauchen. So ist Gott nicht! Und das kann Jesus auch mit seinem Statement nie gemeint haben. Sondern ich glaube, er wollte damit genau das Gegenteil deutlich machen.

Jesus wollte ja den Blindgeborenen gerade aus diesem Kausalitätsdenken herausholen. Ich bin krank, weil... Ich bin schuld, weil... ich muss leiden, weil ... Dieses Lebensgefühl war ja gerade das Dunkel gewesen, das ihn von Kindauf belastet hatte. Er war immer auf seine Vergangenheit festgelegt. Er konnte immer nur zurück schauen und bitter feststellen: So ist es eben bei mir geworden und so bin ich zurecht geworden und so wird es immer bleiben. Doch Jesus holte ihn aus diesem Fixiertsein auf eine schuldbeladene Vergangenheit heraus, um ihm dafür eine neue Zukunft zu eröffnen. Nicht zurück, sondern nach vorne sollte er endlich schauen können und darum sagte er dem Blindgeborenen etwas, was dieser wohl noch nie in seinem Leben gehört hatte: "An dir sollen die Werke Gottes noch offenbar werden."

Das heißt mit anderen Worten erstens: "Du bist zu etwas da. Bisher hast Du wohl nur gedacht: Andere Menschen, gesunde Menschen sind zu etwas da. Ich bin ja nur eine Last. Eine Fehlkonstruktion, die man höchstens bedauern kann." Doch nun sage ich dir im Namen des Höchsten, deines Schöpfers, dieses ungeheure Wort: "An dir sollen die Werke Gottes offenbar werden."
Und das heißt zweitens: Du bist nicht nur zu irgendetwas da, sondern zum Höchsten, was über einen Menschen gesagt werden kann: Du bist zur Ehre Gottes da. Durch dein Leben soll Gott Ehre bekommen. Du sollst ein Glanzpunkt für Gott sein.
Und drittens heißt das schlicht und einfach: Du hast Zukunft. Du darfst das Gefängnis deiner schlimmen Vergangenheit endlich verlassen und darfst gespannt sein, wie Gott in deinem Leben noch wirken wird.

Diese Aussage muss für den Blindgeborenen so etwas wie ein zweiter Sonnenstrahl gewesen sein, der seinen dunklen Lebenshorizont in ein neues Licht tauchte. Er konnte sein Leben plötzlich neu sehen und bewerten: Ich bin keine sinnlose Existenz, sondern Gott will mich, Gott braucht mich, ich habe Zukunft, ich bin zu etwas da auf dieser Erde, zur Ehre Gottes.

Und wie sehr würde ich mir wünschen, dass das auch manche von uns heute morgen für sich ganz persönlich hören könnten, vielleicht ganz neu für sich hören könnten: Du bist zu etwas da. Dein Leben hat Sinn. Es ist so gut, dass du da bist. Durch dich will Gott Ehre bekommen. Egal wie es momentan in deinem Leben aussieht, an dir sollen noch die Werke Gottes offenbar werden. Glaub es. Hör es. Lass es dir sagen.

 

Und dann geschah die körperliche Heilung. Die möchte ich heute gar nicht besonders betrachten. Fakt ist, Jesus rührte ein Brei aus Speichel und Erde an, schmierte den auf die Augen des Blinden und schickte ihn zum Teich Schiloach. Dort wusch der sich die Augen und kam sehend wieder.

Und damit hätte ja die Geschichte enden können. Darin sehen wir normalerweise das allumfassende Happy End: Jesus hat diesen Menschen nun auch körperlich wieder gesund gemacht.

In einem ersten Schritt hat Jesus gewissermaßen seine Seele berührt, ihn befreit aus Schuldgedanken und dem Gefühl, eine wertlose Existenz zu sein. Und im zweiten Schritt folgte dann die körperliche Heilung. Doch interessant ist nun, dass die Geschichte mit dem Geheilten nach unserem Predigttext noch ganz spannend weitergeht. Über 30 Verse lang folgt dann in Johannes 9 so etwas wie ein inquisitorisches Ausfragen des geheilten Menschen. Das ganze Umfeld des ehemals Blinden will nun von ihm wissen, was da genau geschehen ist und wie es dazu kam, dass er plötzlich wieder sehen kann. Die Nachbarn, alle, die ihn früher beim Betteln gesehen haben, und dann auch die Pharisäer. Alle quetschen ihn neugierig aus. Und vor allem die Pharisäer wollten dabei irgendetwas finden, was das, was Jesus da getan hatte, in Frage stellen könnte.
Der Geheilte antworte wieder und wieder. Und am Anfang beantwortete unser geheilter Freund die Fragen nur damit, dass er nacherzählte, wie genau die Therapie von Jesus ausgesehen hat. Also das mit dem Brei und mit dem Waschen im Teich Schiloach. Doch je mehr die Inquisitoren auf ihn eindringen, desto weniger geht es unserem Freund um die Therapieform, sondern um den Therapeuten, also um Jesus. Und er bekennt sich im Laufe seiner Antworten immer mehr zu Jesus und erzählt davon, was dieser Jesus für ihn bedeutet. Sein Bekenntnis wird schließlich so klar, dass es am Ende in V.28 heißt: "Die Pharisäer schmähten ihn und sprachen: Du bist sein Jünger. Wir aber sind Moses Jünger. Und sie stießen ihn aus der Gemeinschaft heraus."

Langer Rede, kurzer Sinn: In diesem ganzen Hin und Her, das auf die körperliche Heilung des Blindgeborenen folgte, wird uns vor Augen geführt, das neben der körperlichen Heilung auch ein Prozess des geistlichen Heilwerdens in diesem Menschen geschehen ist. Er wurde nicht nur vom Äußeren, von den Augen her sehend, sondern auch innerlich in dem Sinn, dass er Jesus als seinen Herrn und Heiland erkannt hatte und sein Jünger wurde. Jesus hat gesagt: "Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht mehr in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben." Und genau das war der letzte Schritt des Blindgeborenen hin zur einer ganzheitlichen Heilung gewesen, dass er sehend wurde für Jesus als Licht der Welt.

Dieser Menschen durfte heil werden in einem dreifachem Sinn: Seelisch, körperlich und geistlich. Jesus ist für ihn in allen Bereichen zum Licht seines Lebens geworden. Genau das möchte er auch für uns alle sein.
Amen

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