Text der Predigt am Sonntag, den 13. September

13.09.2020

PREDIGT zu Lukas 19, 1-10

1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. 6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. 7 Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8 Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Liebe Gemeinde,

"der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist." So bringt das Jesus auf den Punkt, was er uns durch diese Begegnung mit Zachäus zeigen will.
"...zu suchen und selig zu machen, was verloren ist." Jesus sieht sich also schwerpunktmäßig für die Verlorenen zuständig. Aber wer sind diese Verlorenen? Diese Frage hat mich bei der Vorbereitung auf diese Predigt erst einmal beschäftigt. Was ist überhaupt mit diesem Begriff "Verlorensein" in der Bibel gemeint?

Nun, in meinem kirchlichem Sprachgefühl schwingt da bei diesem Wort "Verlorene" immer auch so eine moralische Komponente mit in Richtung "verdammt und verloren" Die Verlorenen, so habe ich es jedenfalls schon aus etlichen Predigten und Auslegungen herausgehört, die Verlorenen, das sind die, die irgendwie versagt haben, die böse und schlecht sind, und darum gehen sie auch in alle Ewigkeit verloren.

Doch ich möchte uns bewusst machen: Dieser moralische und wertende Unterton fehlt eigentlich gänzlich bei dem, was das Neue Testament meint, wenn es von "verloren" spricht. Hier ist nämlich einfach nur das gemeint, was wir auch in unserer Alltagssprache als "verloren gegangen" bezeichnen würden. "Verloren" bedeutet ganz schlicht und einfach nur, dass etwas nicht mehr dort ist, wo es eigentlich hingehört. Verlieren können wir z.B. unseren Schlüssel. Er ist uns vielleicht aus der Tasche gefallen und jetzt liegt er irgendwo am falschen Platz. Der Schlüssel ist ja nicht weg, er hat sich ja nicht in Luft aufgelöst, aber er ist eben woanders, am falschen Platz. Und dann beginnen wir ihn zu suchen und wenn wir den Schlüssel wiederfinden, dann freuen wir uns und stecken ihn wieder zurück an seinen richtigen Platz - in unsere Hosentasche oder vielleicht Handtasche.

Und genau das ist auch übertragen gemeint, wenn die Bibel von "Verlorensein" spricht. Sie meint damit, dass Menschen sich von Gott entfernt haben. Und dass sie deshalb nicht mehr an dem Platz sind, wo sie eigentlich hingehören, nämlich in Gottes liebender Nähe. Und für Gott ist das etwas ganz Schlimmes, viel schlimmer als wenn wir unseren Schlüssel verlieren. Für Gott ist das so, wie wenn Eltern ihr Kind z.B. irgendwo im Gedränge eines Jahrmarktes verlieren.
"Svenja, wo bist du? - Hast du sie gesehen? - Nein, eben hielt ich sie noch an der Hand. Aber irgendwie ist sie plötzlich nicht mehr da. - Haben wir sie vielleicht eben beim Kettenkarusell verloren oder beim Zuckerwattestand? Schnell, lass uns suchen.- Oh nein, hoffentlich finden wir sie bald wieder..."

Mit aller Energie machen sich doch Eltern auf die Suche nach ihrem Kind, das sie verloren haben. Und genau das tut Gott auch, wenn Menschen ihn aus den Augen verloren haben, wenn Menschen nicht mehr dort sind, wo sie eigentlich sein sollten, in seiner liebenden Nähe. Gott sucht nach ihnen. Und darum hat Gott seinen Sohn Jesus Christus auf diese Erde geschickt, um jeden einzelnen seiner verlorengegangenen Menschen zu suchen und sie wieder an den Platz zurück zu führen, wo sie eigentlich hingehören, nämlich an die Hand ihres Vaters im Himmel.

Das ist gemeint, wenn die Bibel von Menschen spricht, die verloren sind: Damit will sie nicht moralisieren und abqualifizieren, sondern einfach nur deutlich machen, dass Menschen nicht mehr am richtigen Platz für Gott sind. Das Neue Testament ist voll von solchen Geschichten, wie Jesus Menschen aufgesucht hat in ihrem persönlichen Verlorensein und wie er sie wieder zurückführte in eine heile Gemeinschaft mit Gott. Der Klassiker für dieses Suchen und Gefundenwerden ist dabei sicherlich die Begegnung mit Zachäus.

Man kann ja diese biblische Geschichte auf zweierlei Weise hören. Zum einen so, dass wir darin entdecken, wie Jesus auch mir persönlich begegnen will.
Man diese Geschichte aber auch aus einer anderen Sicht betrachten: Dass Jesus uns hier ein Vorbild geben will, wie auch wir Menschen begegnen sollen, die ihren Platz in der liebenden Nähe Gottes verloren haben.

Und genau das zweite will ich heute einmal tun. Ich möchte mit euch bedenken, was wir hier lernen können für unseren Auftrag als Gemeinde. Ich glaube, dass Jesus uns zeigen möchte, dass auch wir gesandt sind, Verlorene zu suchen und ihnen zu helfen, den Weg zu Gott zurückzufinden.
Die Gemeinde ist ja wesensmäßig Leib Christi. D.H. eine Gemeinde soll das verkörpern, worum es Jesus geht. Und worum geht es Jesus zentral? Lk 19,10 "zu suchen und selig zu machen, was verloren ist." Das ist der Auftrag der Gemeinde. Eine christliche Gemeinde ist zuerst und vor allem ein Werkzeug Gottes, durch das er Menschen suchen, finden und retten will. Gemeinde ist kein Selbstzweck. - nur dazu da, damit wir uns wohlfühlen und uns geistlich versorgt wissen. Das ist auch wichtig. Aber die Gemeinde als Leib Christi kann nur ein oberstes Ziel haben, nämlich das von Jesus: "zu suchen und selig zu machen, was verloren ist."
Wie geht das aber? Wie können wir diesen zentralen Auftrag umsetzen? Was hat uns Jesus diesbezüglich vorgelebt?

Ich möchte vier Aspekte aus unserer biblischen Geschichte herausstreichen:

1. Es geht Jesus um den einzelnen Menschen

Jesus zog durch Jericho hindurch und Menschenmassen säumten die Straßen. Und ich denke: Das wäre doch eine super Gelegenheit gewesen, am Marktplatz stehen zu bleiben und zu dieser ganzen neugierigen Menschenmasse zu predigen und sie für das Reich Gottes zu gewinnen!
Doch Jesus beachtete die Menschenmasse scheinbar gar nicht.

Für uns sind Zahlen ganz wichtig, je mehr Menschen wir erreichen und je besser unsere Veranstaltungen besucht sind, desto segensreicher beurteilen wir das.
Aber Jesus ist anders. Er kümmert sich scheinbar gar nicht um die Zahlen und um die Massen. Im Gegenteil: Er verärgert die Volksmenge sogar darin, dass er sich plötzlich vollkommen einem einzigen Menschen zuwendet und sich ganz auf ihn konzentriert. Jesus bleibt bei diesem von allen gehassten Steuereintreiber Zachäus stehen und kehrt bei ihm für den Rest des Tages ein.
Wir müssen uns bewusst machen: Jesus hat durch dieses Verhalten ganz viele Menschen vernachlässigt - auch viele fromme Menschen vernachlässigt, die es verdient gehabt hätten, ein wenig Zuwendung von ihm zu bekommen. Aber Jesus nahm das in Kauf, um diesem einzelnen Menschen seine ganze Zuwendung schenken zu können.

Das ist Jesu Art, Verlorene zu suchen und zu retten. Es geht ihm immer um den einzelnen Menschen. Er ist keine Gießkanne mit einem Sprenkel-Aufsatz, damit möglichst viele Pflanzen auch das eine oder andere Tröpflein von seinem Wasser abbekommen. Nein, Jesus richtig den Strahl seiner Zuwendung wirklich ganz konzentriert auf den einen Menschen, den er in Gottes Nähe zurücklieben will.

Und genau das sollen wir von Jesus lernen. Und das ist das, was auch für unsere Gemeindearbeit ganz wichtig ist. Wir wollen einzelnen Menschen nachgehen. Wir können nicht allen gerecht werden. Aber um die, um die wir uns kümmern, kümmern wir uns wirklich. Wir suchen nicht die Massenerweckung und gieren nach Zahlen, sondern wir freuen uns über einen einzigen Menschen, der sich neu auf den Weg zu Gott macht.

2. Es geht Jesus um Außenstehende

Das war ja immer das Skandalöse an Jesu Verhalten gewesen. Er hat sich ausgerechnet denen zugewandt, die außerhalb der Gesellschaft und außerhalb der religiösen Normen standen. Die Etablierten und Insider waren für Jesus eher eine Randgruppe gewesen und die sogenannten Randgruppen, waren für ihn eher Zielgruppe. Menschen, die es nach dem Gefühl der Leute eigentlich gar nicht verdient hatten, bekamen von Jesus volle Zuwendung. Ein Freund der Fresser und Säufer, der Prostituierten und Halunken wurde Jesus geschimpft. Und in Zachäus wandte er sich dem Oberhalunken zu, dem Anführer dieser verhassten Steuereintreiberkaste. Gefühlt muss Zachäus damals ähnlich beliebt gewesen sein wie für uns heute so ein Manager, der seine Firma erst gegen die Wand fährt, tausende Arbeiter zu Hartz4-Empfängern macht und dann alles, seine Hände in Unschuld waschend, teilnahmslos von seiner Millionenvilla aus betrachtet. Ähnlich integer muss Zachäus damals für seine Mitmenschen gewesen sein.

Und zu dem geht Jesus hin und kehrt in seine Villa ein. Unmöglich! "Bei einem Sünder ist er eingekehrt!" zischelten die Menschen. Aber Jesus sucht eben die Verlorenen. Und Zachäus gehörte ganz eindeutig zu ihnen. Reiche sind innerlich oft sehr verlorene Menschen hinter dem äußeren Glanz ihrer Fassade.

Als Gemeinde, als Leib Christi, müssen wir das einfach wissen: Jesus hatte immer ein besonderes Faible für die Außenstehenden. Und ich denke, er will auch uns heute diese Menschen ans Herz legen, die traditionellerweise nicht zum frommen Inventar gehören. Jesus fordert uns heraus, Kontakte zu suchen zu den Kirchen- und Glaubensdistanzierten unserer Zeit.

3. Es geht Jesus um suchende Menschen

Andrerseits müssen wir das Evangelium auch nicht anbieten wie sauren Wein. Wir müssen es Menschen nicht aufdrängen, die partout nichts davon wissen wollen. Mir fällt bei Jesus auf, dass er offensichtlich ein ganz feines Gespür für Menschen hatte, die wirklich nach Gott suchen, die auf der Suche sind nach ganzheitlicher Heilung und einem neuen Leben sind. Und das war auch der Grund, warum es Jesus wie einen Magneten hin zu diesem kleinen Mann auf dem Baum gezogen hat. Jesus hat gespürt, wie sehr sich dieser Mensch nach einem Neuanfang sehnte, nach einem Zurückfinden in Gottes Arme.

Meine Erfahrung ist: Es gibt Menschen, die suchen ganz aufrichtig nach Gott. Aber es gibt auch Menschen, die haben da innerlich einfach die Tür ihres Herzens verschlossen. Und du kannst da noch so sehr versuchen, anzuklopfen, diese Türen bleiben zu. Und manchmal müssen wir solche Menschen schweren Herzens einfach loslassen, um offen zu sein für andere. Denn es gibt eben auch diese Menschen, deren Herzen offen sind wie Scheunentore für Gott. Und das Evangelium fällt in sie hinein wie Wasser auf ausgetrocknetes Land.

Als Pastor möchte ich gerne mit Euch, liebe Gemeinde, besonders für diese suchenden und offenen Menschen da sein. Und Gott schickt zu uns solche Suchenden. Den Fertigen und Verschlossenen können wir oft nicht weiterhelfen, aber für die Suchenden wollen wir ganz da sein.

4. Es geht Jesus um ganzheitliche Begegnungen

Jesus blieb bei Zachäus stehen und sagte zu ihm: "Ich will in deinem Hause Gast sein." Es ging Jesus um mehr als um ein bisschen Smalltalk mit diesem Mann auf dem Baum. Nein, er wollte Zachäus wirklich kennenlernen. In seinem Haus einkehren. Das mit dem Haus hat auch symbolische Bedeutung. Jesus zeigte damit: Du bist mir wichtig in deinen ganzen Lebensbezügen. Ich will hier nicht nur ein bisschen Blabla mit dir veranstalten, sondern ich will im Zentrum deines Lebens ankommen, in deinem Lebenshaus einen Platz finden. Jesus suchte eine echte und tiefe und wirklich ganzheitliche Beziehung zu Zachäus.

Und auch die Reaktion des Zachäus zeigt dann, dass er diese ganzheitliche Dimension der Begegnung und Beziehung zu Jesus verstanden hat. Er sagte am Ende des Tages: "Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, gebe ich es ihm vierfach zurück."
Das signalisierte eine tiefgreifende Lebenswende, die Zachäus nun wagte. Er ist nicht nur mit seinem Verstand und mit ein paar netten Willensbekundungen umgekehrt, sondern mit seinem ganzen Wesen. Vom Ausbeuter zum Austeiler. Die Begegnung mit Jesus hatte ihn zutiefst in seiner Existenz verwandelt. Genau darum geht es Jesus. Jesus geht es um ganzheitliche Begegnungen.

Und das möchte ich auch in unserer Gemeinde erleben und fördern. Dass wir solche Begegnungen wagen, die wirklich tiefer gehen. Dass unsere Beziehungen über den Austausch von frommen Nettigkeiten hinausgehen und dass wir lernen, nicht nur unsere Sonntagsgefühle zu teilen, sondern immer mehr auch unser real existierendes Leben. Auch diese Seite in unserem Leben, wo wir vielleicht auch Verlorenheit erleben. Lasst uns die negativen Seiten unseres Leben einander nicht verschweigen, sondern ehrlich teilen, sie miteinander hilfesuchend vor Gott bringen.
Und genau das spüren dann auch kirchendistanzierte Menschen sehr genau, ob es in unserer Gemeinde nur um Äußerlichkeiten und frommes Gehabe geht, oder um echtes Leben und echten Glauben. Es geht Jesus um ganzheitliche Begegnungen.

"Der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist."
Lasst uns miteinander diesen Auftrag von Jesus annehmen. Lasst uns von dem lernen, was Jesus uns vorgelebt hat. Lasst uns den einzelnen Menschen wichtig nehmen, lasst uns Kontakte suchen zu kirchendistanzierten, aber dennoch nach Gott suchenden Menschen. Und lasst uns ganzheitlichen Beziehungen wagen. So werden Verlorene wieder ihren Platz finden in Gottes liebender Nähe. Amen

 

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