Text der Predigt am 21. März 2021

Predigt zu Lukas 21, 1-4

1 Jesus blickte aber auf und sah, wie die Reichen ihre Gaben in den Gotteskasten einlegten. 2 Er sah aber auch eine arme Witwe, die legte dort zwei Scherflein ein. 3 Und er sprach: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr als sie alle eingelegt. 4 Denn diese alle haben etwas von ihrem Überfluss zu den Gaben eingelegt; sie aber hat von ihrer Armut alles eingelegt, was sie zum Leben hatte.

Da ist dieser Mann, der an einer chronischen Krankheit leidet, die ihm jede Bewegung immer schwerer macht. Trotzdem räumt er für die gehbehinderte Dame aus der Nachbarschaft den Schnee weg - frühmorgens, ganz selbstverständlich, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

Oder da ist diese Kassiererin im Discounter. Die Schlange an ihrer Kasse wird immer länger. Umständlich sucht der zittrige alte Mann das Kleingeld aus seinem Portemonnaie. Schon schimpfen die Kunden hinter ihm. Dennoch bleibt die Kassiererin freundlich, hilft dem alten Mann die paar Sachen in den Rollator zu räumen und gibt ihm dann noch ein wertschätzendes Wort mit auf den Weg.

Oder da ist die junge Frau, die gerade ihre neue Stelle angefangen hat und sich im Homeoffice mühsam in die Materie einarbeitet. Doch als die Oma ins Krankenhaus kommt und der Opa zuhause versorgt werden muss, packt sie kurzentschlossen ihre Siebensachen und baut ihr Homeoffice beim Opa auf. Ist doch selbstverständlich, sagt sie zur ihren Großeltern - ihr habt mir schon so viel gegeben, jetzt kann ich mal was für euch tun.

Oder da ist der Pensionär, der geduldig mit dem überforderten Flüchtling von Amt zu Amt zieht und ein Papier nach dem anderen ausfüllt, bis dieser endlich seine Aufenthaltsgenehmigung erhält. Und selbstverständlich hilft er ihm auch weiter bei der Vermittlung einer Wohnung und eines Arbeitsplatzes.

Oder da ist die Frau, die es in der Coronakrise übernommen hat, die Kirchlichen Zeitschriften zu verschicken. Und sie klebt nicht nur eine Briefmarke auf den Umschlag, sondern legt immer wieder auch noch einen lieben, kleinen persönlichen Gruß bei.

Oder da ist der Jogger, der täglich seine Runde durch den Wald läuft. Bei sich trägt er einen Beutel. Und sobald er Kleinmüll auf dem Weg liegen sieht, sammelt er ihn auf. Meistens verlorene Taschentücher, Bonbonpapiere oder weggeworfene Zigarettenkippen Einmal hat er sogar eine illegal entsorgte große Sperrholzplatte bis zu seinem Auto geschleppt, ich hab ihm auf den letzten Metern dabei geholfen.

Oder da ist die Seniorin, die nicht mehr in den Gottesdienst kommen kann. Dennoch faltet sie zuhause täglich ihre Hände und betet für die Menschen aus der Gemeinde. Eine lange Liste liegt auf dem Wohnzimmertisch, damit sie ja niemanden vergisst.

Ja, und da ist schließlich diese Witwe, die in den Tempel geht. Dort steht ein Opferstock. In den Händen hält sie zwei Kupfermünzen. Es ist alles, was sie noch hat. Das Geld hätte für das tägliche Stück Brot gereicht. Doch sie wirft die beiden Münzen einfach in die Kollekte. Gott wird sie dennoch versorgen, sagt sie sich.

Jesus hat alles gesehen. Jesus sieht das Kleine mitten in all dem Großen, was geschieht. Und für ihn ist das scheinbar Kleine das Größte und Wichtigste.

Wenn man einen Bibeltext im Zusammenhang liest, dann ist es manchmal verblüffend, welch neue Sicht man auf ihn bekommen kann. Seit einigen Tagen lesen wir in der Herrnhuter Bibellese das Lukasevangelium ab dem 19. Kapitel. Beginnend mit Jesu Einzug nach Jerusalem werden wir in die letzten irdischen Lebenstage von Jesus hineingenommen - also die sogenannte Passionsgeschichte. Lukas zeigt uns, dass sich Jesus in diesen Tagen vor allem im Tempel aufgehalten hat. Und es begann dort mit einem großen Eklat. Jesus trieb die Leute, die mit Opfertieren handelten, schroff aus dem Tempel hinaus. Das war schon ein starkes Stück! Und man kann sich vorstellen, wie aufgeladen damals die Stimmung war, als Jesus nun jeden Tag im Umfeld des Tempels zubrachte und dort lehrte. Es gab heftige Streitgespräche mit den führenden Geistlichen über ganz zentrale Themen des Glaubens. Hochtheologisch, sehr konfrontativ. Und Jesus nahm auch kein Blatt vor den Mund, als er z.B. im Bibelabschnitt vor unserem Predigttext die Heuchelei und die Großmannssucht der religiösen Elite anprangerte.

Aber dann ist es im Bibeltext plötzlich, wie wenn eine Kamera nach all diesen großen Themen und Auseinandersetzungen, einen Schwenk in ein ganz kleines Seitenereignis machen würde. Wir sehen Jesus, wie er sich mit seinen Jüngern in der Nähe des Opferstocks im Tempel aufhält. Und Jesus beobachtet dabei die Leute, die Geld in den Gotteskasten werfen. Zahlreiche Gläubige laufen dort vorbei und geben ihren Obulus, gerne so, dass es alle sehen. Einige legen auch beeindruckende Beträge ein. Doch Jesus sieht vor allem die Eine, diese schlichte Frau, diese arme Witwe, die zwei Kupfermünzen einwirft. Eigentlich fast nichts wert. Doch Jesus wendet sich an seine Jünger: Habt ihr sie gesehen? Habt ihr gesehen, was sie gemacht hat? Sie hat alles gegeben, was sie hat. Wie beeindruckend!

Und danach geht´s im Bibeltext sofort wieder ins Große über: Jesus hält seine sogenannte Endzeitrede, schildert die weltweiten Wehen am Ende der Zeit. Erdbeben, Verfolgung, Seuchen. Himmel und Erde geraten ins Wanken. Vergessen ist bei solch gewaltigen Ausblicken natürlich schnell wieder die unscheinbare Witwe mit ihren beiden Kupfermünzen. Doch in der Bibel bleibt diese kleine Episode wie eine Art Fremdkörper stehen. Mittendrin zwischen all den umwälzenden, großen Ereignissen und theologischen Disputen der Passionsgeschichte.

Ich weiß nicht, ob ihr das auch so empfinden könnt wie ich. Aber diese Episode mit der Witwe wirkt wirklich wie ein Fremdkörper in diesem größeren Zusammenhang der letzten Tage Jesu. Da geht es doch eigentlich um Bedeutenderes und Größeres als die Spende einer schlichten Frau. Aber gerade durch diesen Gegensatz zwischen dem Hochbrisanten und dem scheinbar Nebensächlichen sticht diese Randerzählung im Zusammenhang heraus.
Und sie zeigt uns etwas über Jesus, was mich zutiefst beeindruckt. Obwohl die Welt um ihn herum tobt und das Böse sich immer mehr entfesselt, schafft es Jesus, den unscheinbaren Liebesdienst dieser einfachen Witwe wahrzunehmen und zu würdigen. Obwohl Jesus mitten in den schlimmsten Auseinandersetzungen drin steckt, fällt ihm auf, was diese unscheinbare Frau tut und stellt es im Gespräch mit seinen Jüngern in den Fokus.

Jesus sieht das Kleine inmitten von all dem Großen, das geschieht. Und für ihn ist das scheinbar Kleine das Größte und Wichtigste.

Das ist die Botschaft, die ich aus unserem heutigen Predigttext ganz neu heraushören konnte, weil ich sie durch die tägliche Bibellese mehr in ihrem größeren Zusammenhang sah.

Diese arme Witwe mit ihren zwei Scherflein bietet ja uns Predigern und Predigerinnen normalerweise eine Steilvorlage für eine zünftige Kollektenrede. Die arme Frau, die alles gibt, was sie hat, wird dann gern präsentiert als Vorbild für echte Spendenbereitschaft. "Sie hat alles gegeben, und was tust du?" Gefühlsmäßig verlässt man ja die Kirche nach so einer Predigt meistens mit einem schlechten Gewissen. Denn wer danach immer noch ein paar Geldscheine nach Hause trägt, muss ja im Vergleich zu dieser Frau etwas gewaltig falsch machen. "Sie hat alles gegeben, und was tust du?"

Nicht wahr, viele von uns haben schon solche Predigten gehört. Ich sogar gehalten. Aber wird diese moralisierende Auslegung dem wirklich gerecht, was hier zwischen Jesus und dieser Frau passiert? Für mich hat diese Episode im Zusammenhang der Passionsgeschichte in meiner Vorbereitung eine andere Ausrichtung bekommen. Mir wurde bewusst, wie außergewöhnlich das war, dass Jesus diese Frau wahrnahm. Und für mich zeigt Jesus hier vor allem, wie sehr er die wahre Bedeutung eines scheinbar kleinen Liebesdienstes ermessen kann.

Ja, es stimmt, Jesus setze das, was diese Frau spendete, dann tatsächlich in ein Verhältnis zu dem, was die Reichen aus ihrem Überfluss heraus gegeben hatten. Aber er tat das nach meinem Dafürhalten nicht, um die Reichen abzuwerten, sondern um diese Frau und das, was sie getan hat, aufzuwerten. Wenn wir den biblischen Text genau lesen, so steht da eigentlich gar kein Tadel für die reichen Spender drin. Es steht da lediglich die Feststellung, dass die Reichen aus ihrem Überfluss etwas abgegeben haben. Und warum betonte das Jesus? Nicht um die Reichen zu kritisieren, sondern damit seine Jünger begreifen konnten, wie beeindruckend der Liebesdienst der Frau in Wirklichkeit war. Während im Opferbetrieb des Tempels sonst nur die Großspender auffielen, fand die kleinste Spenderin bei Jesus die größte Beachtung.

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Jesus aber sieht das Herz an und er kennt die Hintergründe. Er weiß, was für einen Wert die zwei Kupfermünzen für die Frau hatten.
Und Jesus weiß auch, wie schwer diesem Mann mit der chronischen Erkrankung jede einzelne Schippe Schnee fällt, die er für die Nachbarin wegräumt.
Und Jesus sieht die Anspannung, unter der die Kassiererin steht, die aber trotzdem freundlich bleibt.
Und Jesus weiß, dass es dem Pensionär keine reine Freude ist, wenn er sich für den hilfesuchenden Freund durch den Amtsschimmel kämpft.
Und Jesus sieht den Berg von Arbeit, den die Frau vor sich sieht und der sie trotzdem nicht davon abhält, nette Grüße mit den kirchlichen Zeitschriften zu versenden.
Und Jesus weiß, wie viel Ärger der Jogger jedes Mal herunterschluckt, wenn er einen liegengelassenen Hundekackbeutel aufliest.
Jesus kennt den wahren Wert der beiden Kupfermünzen, die die Witwe in den Opferstock warf.

Gut so. Das bedeutet, dass Jesus es sieht und wirklich wertschätzt, wenn wir einen Liebesdienst tun, auch wenn der noch so klein erscheint. Das Kleine ist in seinen Augen vielleicht etwas ganz Großes. Und das, was vor den Augen der Welt gern so groß erscheint, kann für ihn relativ klein sein.
Das gilt vielleicht auch für die Dienste in der Gemeinde. Mit manchen Diensten stehst du im Rampenlicht und findest Beachtung. Damit, dass ich z.B. hier vorne stehe. Andere Dienste fallen aber fast gar nicht auf und geschehen im Stillen. Das treue Gebet der Seniorin. So manches seelsorgerliche Gespräch oder Telefonat. Das verantwortungsvolle Um-unser-Gemeindezentrum-Kümmern, das Buchen der vielen Rechnungen und Zahlen. Jesus sieht es.

Sieht Jesus auch deinen kleinen Glauben und wertschätzt er ihn? Während die einen mit großen Worten über Gott reden, wohlformulierte Gebete sprechen, einen Bibelvers nach dem anderen auswendig zitieren und von berührenden Gotteserfahrungen sprechen können, stehst du vielleicht kleinlaut daneben mit deinem kleinen Glauben und dem großen Zweifel. Doch Jesus sieht dich und deine aufrichtige Suche. Dein kleiner und vielleicht auch zweifelnder Glauben ist ihm ganz viel wert. So viel wert wie die zwei Kupfermünzen der armen Frau.
Nach Taizé kommen jedes Jahr unzählige Jugendliche mit ihren vielen Fragen und auch Zweifeln. Sinngemäß sagte einmal Frere Roger in einer Andacht: "Du musst keinen großen Glauben haben und alles über die Bibel wissen und verstehen - wenn du auch nur eines aus dem Evangelium verstanden hast und danach lebst, dann genügt das."

Jesus sieht das Kleine, das wir geben und für ihn ist es unendlich wichtig. Was folgt für uns daraus? Wozu will uns Jesus durch unseren heutigen Bibeltext ermutigen?

Ich glaube zu zweierlei. Zum einen, dass wir es auch lernen, das Kleine zu sehen - so wie Jesus. Für mich war es als Vorbereitung auf diese Predigt wichtig, mal selbst um mich herum zu schauen und solche scheinbar kleinen Liebesdienste zu entdecken, die überall geschehen. Und beim Augenöffnen ist mir immer mehr aufgefallen. Die freundliche Kassiererin gibt es wirklich - vielleicht triffst du sie morgen beim Einkaufen. Und den müllsammelnden Jogger, den gibt es auch, ich begegne ihm sogar recht häufig. Und es gibt auch die treu betende Seniorin, oder die nette-Grüße-verschickende Frau oder die hilfsbereite Enkelin. Wo geschehen solche Liebesdienste in deinem Umfeld? Versuch doch mal in dieser Woche, sie zu entdecken. Es tut uns immer gut, wenn wir unseren Blick auf solche positiven Ereignisse fokussieren und nicht immer nur das Ärgerliche und Negative vor uns sehen.
Mach dich in dieser Woche auf, und suche einmal nach den Kupfermünzen der Liebe, die Menschen in den Gotteskasten dieser Welt werfen.

Zweitens:
Das Gute sehen ist das Eine. Das Gute tun das Andere: Mach dich selbst auf und tu das Kleine. Das, was dir möglich ist. Du muss nicht die Welt retten, aber vielleicht kannst du das Bonbonpapier auflesen, das auf dem Weg liegt und in den Papierkorb werfen. Oder die Kassiererin loben, die trotz Stress freundlich bleibt. Oder zum Telefonhörer greifen und bei deinem Freund anrufen, dem es nicht gut geht. Oder der hilfesuchenden Kollegin geduldig zur Seite stehn. Dir wird manches einfallen, wie du diese Woche die eine oder andere Kupfermünze der Liebe in den Gotteskasten der Welt werfen kannst. Tu das Kleine und mach dir bewusst: Jesus sieht es und es ist ihm sehr wichtig.
Amen

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