Text der Predigt am 2. Januar 2022
(Laienpredigerin Catherine Schwabe)
Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.
Josua 1,5
Liebe Gemeinde!
Sylvester und Neujahr liegen hinter uns. Auf den Straßen war es ruhiger als in früheren Jahren, aber auch ohne Böller haben wir die Grenze zwischen zwei Jahren überquert. Was bedeutet diese Grenze - für uns - für mich? Die Welt dreht sich wie immer, gestern eigentlich nicht anders als vorgestern. Aber - gestern war ein Feiertag. Was für einer?
Feiertage sind normalerweise Tage der Erinnerung an ein ganz besonderes Ereignis, das die Weltgeschichte verändert hat: Weihnachten, die Geburt Christi, Ostern, seine Auferstehung, Pfingsten, der Geburtstag der Kirche. Nicht alle haben etwas mit Gott zu tun. Da gibt es nationale Feiertage, so wie den Tag der deutschen Einheit, oder den Tag der Arbeit, dessen Bedeutung fast in Vergessenheit geraten ist. Aber Neujahr? Brauchen wir den Feiertag, damit wir uns vom Feiern an Sylvester erholen können, oder besser gesagt, damit wir feiern und lange aufbleiben können, weil wir morgens nicht arbeiten müssen, sondern schön ausschlafen können?
Neujahr ist einfach ein Tag auf dem Kalender, der Anfang eines neuen Jahres. Und doch ist mehr dran als Ausschlafen und Sich-Erholen. Dieses Aufteilen der Zeit hat eine Geschichte so alt wie die Menschheit. Alte Zivilisationen haben sich damit beschäftigt: Die Ägypter, die Juden, die Kelten, die Mayas und Inka. Wir staunen, wie genau sie die Länge der Schatten gemessen und die Wege der Sterne verfolgt haben. So bald Menschen sich etabliert und strukturiert haben, haben sie die Zeit geteilt. Offensichtlich ist dieser Rahmen ein menschliches Bedürfnis. Warum?
Ich bin keine Wissenschaftlerin. Aber um es ganz einfach zu machen, könnte ich es mir so vorstellen, dass wir ab und zu einen Neuanfang brauchen. Das ist eine uralte Erfahrung – das absolute Beispiel ist die Geschichte von Noah. Es ist uns allen bewusst, dass nicht alles läuft, wie wir es gern hätten, und bestimmt nicht, wie Gott es gern hätte. Wenn wir nur dies oder jenes getan oder gelassen hätten… Leider können wir das Vergangene nicht ungeschehen machen, aber wir können neu anfangen. Und dafür gibt es einmal in 365 Tagen, oder im Schaltjahr 366, Neujahr.
Wir drehen die Seite im Buch unseres Lebens um, und die neue Seite ist leer. Ein neues Kapitel, das wir noch schreiben werden, obwohl wir wissen, dass Vieles schon vorgelegt wurde, und dass wir nicht immer genau nach unseren Vorstellungen werden schreiben können.
Was liegt vor uns? Als Kinder haben wir unsere Vorsätze aufgeschrieben, was wir alles besser machen wollten. Alle meine Vorsätze habe ich innerhalb von Tagen gebrochen. Wie Paulus schrieb: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“. Werden wir es schaffen, im 2022 irgendwas zum Positiven zu ändern, an uns selbst, in unseren Beziehungen, für die Menschen, die um uns wohnen, oder mit wem wir tagtäglich zu tun haben? Um es methodistisch auszudrücken: werden wir Fortschritte machen auf dem Weg zur Heiligung?
In diesem Jahr ist es besonders schwer, in die Zukunft zu schauen. Denn vieles können wir nicht bestimmen. Die Pandemie hat die ganze Welt im Griff und wir sind alle, mehr oder weniger, ihre Opfer. Zuerst ging es uns besser, weil wir dreimal geimpft waren, oder geboostert, um das neudeutsche Wort zu nehmen. Dann kam eine neue Variante, die noch ansteckender ist. Wir sind wieder verunsichert – und genervt von den ständigen Änderungen der Regeln. Was kommt als Nächstes? Früher haben wir Pläne gemacht: Urlaub, Familienfeiern, Besuche bei weit entfernten Freunden und Bekannten. Jetzt zögern wir, Dinge festzulegen. Auch in der Gemeinde ist einiges unsicher. Wir mussten die Adventsfeiern unserer Kreise absagen. Und wie ist es mit Braunfels? Werden wir überhaupt unser Gemeindewochenende durchführen können? Menschen, die im Berufsleben stehen, sind ständig in Stress wegen Ausfall von Kollegen. Schwierige Entscheidungen sind zu treffen. Kinder und junge Menschen lernen unter erschwerten Bedingungen. Familien streiten. Alleinstehende vereinsamen.
Ein bisschen planen muss man. Für viele steht das Jahr schon in groben Zügen, aber es gibt so viele Fragezeichen. Festlegen können wir uns nicht. Wir müssen bereit sein, jederzeit Pläne zu ändern. Gibt es irgendwann eine Rückkehr zu Normalität, oder wird es dies nie wieder geben? Was steht uns bevor? Welche Probleme werden dieses Jahr prägen? Und für die Älteren unter uns: Werde ich dieses Jahr überhaupt ganz erleben?
Hier in Deutschland sind wir schwierige Zeiten nicht mehr gewöhnt. Es ist uns so lange gut gegangen. Anders in der Welt und in der Geschichte: Wüstenzeiten gibt es in vielen Ländern und hat es immer gegeben: Zeiten des Krieges, Naturkatastrophen, Hungersnot, totalitäre Regierungen, Pandemien. Außer den sehr Alten unter uns, oder denjenigen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind, kennen wir alles nur aus den Geschichtsbücher oder den Nachrichten.
Gehen wir weit mehr als 3000 Jahre zurück. Das Volk Israel hatte seine Wüstenerfahrung, und nicht im metaphorischen sondern im ganz realen Sinn. 40 Jahre in der Wüste. 40 Jahre, weil sie immer wieder an Gott zweifelten, weil sie sich immer wieder bei Gott beschwerten über ihre so schlechte Situation, weil sie Gott vergaßen und auf andere hören wollten. 40 Jahre zwischen der Sklaverei in Ägypten und dem Land Kanaan, das Gott ihnen versprochen hatte.
Vor ein paar Jahren war ich zum ersten Mal in Israel. Die Reise führte auch über heilige Stätten in Jordanien, und so dürfte ich den Berg Nebo besteigen. Vielleicht waren einige von euch auch schon dort. Ich hatte die überwältigende Erfahrung, da zu stehen, wo Mose stand, und runter zu schauen in das Tal. Es war so, als ob sich in der Zwischenzeit gar nichts geändert hätte. Es war Oktober. Alles war braun, grau, gelb. Felsen, Stein- und Sandwüste, und dann der blaue Streifen, der Jordan, und direkt dahinter ein grüner Fleck: Jericho, eine der ältesten Städte der Welt, gebaut in dieser Oase, wo es das ganze Jahr durch immer frisches Wasser gibt. Obwohl es mehr als 20 km weit weg ist vom Berg Nebo, ist die Luft so klar, dass man Bäume und auch Häuser sehen kann.
Das alles hat Mose gesehen, und er wusste, da ist es, das verheißene Land, das Land ihrer Träume, in dem Milch und Honig fließen. Die Kundschafter, die sie aussandten, berichteten, dass es ein wunderbares Land ist. Aber sie haben auch gesagt: In dem Land wohnen viele Menschen und mächtige Fürsten. So einfach wird es nicht werden, dieses Land in Besitz zu nehmen.
So war das Volk hin und her gerissen zwischen Mut und Angst, zwischen Vorfreude und der Gefahr, zu scheitern und aus dem Land wieder vertrieben zu werden. Mose, der große Führer und Ermutiger, war gestorben. Wird sich Gottes Versprechen, dass es ihr Land sein wird, wirklich wahr werden?
Manchmal sagen wir, es ist gut, dass wir nicht wissen, was kommt. In dieser Situation sind wir auch, am Anfang dieses Neuen Jahres.
Da ist – hoffentlich – Vorfreude. Aber da ist auch die Befürchtung, dass alles anders werden könnte.
Werde ich, wird meine Familie von Krankheit und Leid verschont bleiben?
Werden unsere Beziehungen halten? Wird mir mein Arbeitsplatz erhalten bleiben?
Schaffen meine Kinder, oder meine Enkelkinder, ihre Prüfungen?
Wie werden sich Wirtschaft und Gesellschaft in dieser Zeit der Pandemie entwickeln?
Die Krankenhäuser sind überlastet, die sozialen Sicherungssysteme funktionieren nicht mehr so wie früher, weil es an Geld fehlt.
Wird es neue Kriege und Naturkatastrophen geben?
Was kommt auf uns zu?
Hoffnung, Angst und Zweifel verbinden uns mit der Situation des Volkes Israel vor rund 3000 Jahren. Gott wusste, wie es dem Volk ging, wie ihm zumute war. Sein Volk ist ihm nicht egal, und er ist ein Gott, der sich an seine Versprechen hält. Auf sein Wort ist Verlass.
Hören wir, was Gott seinem Volk in Sichtweite des neuen Landes Kanaan sagte.
Ich lese aus dem Buch Josua, Kapitel 1:
Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war,
sprach der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener:
Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe.
Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe.
Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze Land der Hetiter, soll euer Gebiet sein.
Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang.
Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein.
Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen.
Sei getrost und unverzagt; denn du sollst diesem Volk das Land austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe.
Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken,
damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst.
Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht.
Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen und du wirst es recht ausrichten.
Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist.
Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht;
denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.
Gott sorgt für sein Volk. Er sagt nicht: Jetzt stellt euch nicht so an. Er kritisiert nicht die Einstellung der Menschen, sondern er gibt ihnen drei Sätze mit auf den Weg:
1. Es wird nicht einfach werden.
2. Haltet euch an das, was ich euch gesagt habe, und
3. Seid mutig und getrost.
1. Es wird nicht einfach werden
Das steckt hinter den Worten: Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht. Gott ist realistisch. Es wird kein Spaziergang werden. Man wird das Land nicht einfach so einnehmen können. Angst und Zweifel werden dazu gehören. Es leben schon Menschen dort, auch mächtige Könige. Bald werden sie an die Stadt Jericho kommen, die scheinbar unbezwingbare Stadt. Und doch werden sie diese wie durch ein Wunder einnehmen.
Einfach wird es sicher nicht. Damals nicht, und 2022 auch nicht. Die Nachfolge Jesu ist kein Spaziergang. Wer Christ ist, wird nicht zwangsläufig den leichteren Weg gehen. Es ist uns nicht versprochen, dass hier alles aufgeht. Nein, es wird auch schwer werden und wir haben nicht alles unter Kontrolle.
Wir müssen nur an das Gleichnis vom Sämann denken, der aufs Feld ging zu säen. Einige Körner wurden von Vögeln gefressen. Einige fielen auf steinigen Boden und vertrockneten, oder unter die Dornen und wurden erstickt. Wir werden sicherlich Frust erleben, nicht alles wird gelingen.
Aber wir sind nicht berufen, erfolgreich zu sein, sondern – was auch immer kommen mag – treu zu bleiben. Und dann werden wir Gottes Segen erleben. So wird es sein, auch im Jahr 2022.
2. Haltet euch an das, was ich euch gesagt habe
In der Wüste bekam das Volk Israel die Zehn Gebote von Gott. Diese und andere Regeln und Gesetze sollen die neue Lebensordnung im neuen Land werden:
Dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken,
damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht.
Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen und du wirst es recht ausrichten.
Gott verbindet also den Erfolg der Landnahme mit dem Halten der Gebote, mit dem Hören und Nachdenken seiner Worte. Es wird euch gut gehen, und ihr werdet mich als guten Wegbegleiter erfahren, wenn ihr euch an mich und meine Worte haltet. Vergesst nicht das, was war und was ich euch gesagt habe. Es wird euch helfen.
Was heißt das für uns? Gott möchte, dass wir in 2022 unsere bisherigen Erfahrungen mit ihm im Gepäck haben. Es ist gut, wenn wir uns erinnern, wie Gott uns bisher geführt und geleitet hat. Die Erinnerung kann uns helfen, ihm neu zu vertrauen. Und er möchte, dass wir nach seinen Geboten leben. Er hat ihnen einen Rahmen gegeben, in dem es sich gut leben lässt. Lebt so, dass Gott Freude an uns hat. Nehmt die Bibel ernst und lest darin.
Aber dabei nicht vergessen, dass Jesus uns das neue Gebot der Liebe gegeben hat. Ich erinnere euch gern an das Wesley-Wort im Gemeindebrief für Dezember und Januar: „Wenn du die Liebe verlierst, verlierst du alles“. Das wäre vielleicht der beste Vorsatz für 2022: In Gottes Liebe leben, und sie an andere weitergeben.
3. Seid mutig und getrost
Das zieht sich durch diese Lesung hindurch. Gott macht ihnen Mut, und er gibt ihnen Zusagen und erinnert sie an sein Versprechen. Mach dich nun auf und zieh über den Jordan. Ich will euch alles geben, wie ich es euch zugesagt habe. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein.
So, wie ich trotz allem mit euch in der Wüste gewesen war, so will ich auch jetzt mit euch sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen. Sei getrost und unverzagt. Habt keine Angst. Ich bin doch da.
So sprach Gott.
Und ein letztes Wort von mir:
Ich habe ein ziemlich düsteres Bild von unserer Wüstensituation gegeben. Aber auch in dieser Zeit haben wir klare Zeichen des Wirkens Gottes in unserer Welt.
Gestern wurde in Kapstadt Erzbischof Desmond Tutu beerdigt, ein Heiliger unserer Zeit. In seiner Trauerrede sagte der Präsident des Landes: „Er hat nie aufgehört zu kämpfen, auszusprechen und zu lieben.“ Nachdem das Apartheid-Regime beendet wurde, hat er weiter gekämpft - gegen Zwangsheirat von Kindern, und für die Rechte von Homo-, Bi- und Transsexuellen Menschen. Im Lauf seines langen Lebens wurde diese kleiner Mann von einer Stimme in der Wildnis zu einem Riesen, der weltweit höchste Anerkennung fand. Am Anfang haben seine Worte viel Anstoß erregt. Später haben die Menschen darin den Willen Gottes erkannt. Die Botschaft war gleich, aber das Klima der Meinungen hat sich geändert.
Ebenfalls in diesen Tagen fand die Gerichtsverhandlung von Ghislaine Maxwell statt. Frauen, die vor Jahrzehnten missbraucht wurden, fanden endlich Gehör. Dadurch, dass die Wahrheit ans Licht kommt, kann Heilung beginnen. Hier hat die Macht des Reichtums über die Armut einen Knacks bekommen, der sicherlich weitere Kreise ziehen wird.
Ein drittes Beispiel: Durch den Tod eines schwarzen Mannes wurde die „black lives matter“ Bewegung ins Leben gerufen, und zum ersten Mal waren es ebenso viele Weiße wie Schwarze, die auf die Strasse gingen. Und plötzlich ist ein Licht aufgegangen, und Europäer und Nordamerikaner – oder mindestens einige davon – haben begriffen, dass die unbeschreiblichen Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit nie aufgearbeitet wurden. Statuen wurden gestürzt und unsere stolzen Nationen haben den Anfang gemacht, Kunstobjekte, die sie zur Kolonialzeit mit großer Selbstverständlichkeit einfach mitgenommen haben, zurückzugeben.
Eine kleine Geste, aber ein Zeichen der Erkenntnis. Wir sind noch weit weg vom Traum des Propheten Amos, dass „Recht wie Wasser ströme und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“. Aber wenn wir danach schauen, dann sehen wir überall in der Wüste dieser Welt Tropfen Wasser von Gottes Geist. Er ist da.
Mach dich auf und zieh über den Jordan. Geht mit dem Glauben an einen großen Gott, der euch liebt und euch begleitet.
Er macht uns Mut für dieses Neue Jahr, das er uns schenkt, das wie ein unbekanntes Land vor uns liegt.
Gott spricht: Ich bin bei euch. Das habe ich euch versprochen.
Amen