Text der Predigt am 18. April 2021
Predigt "Die Wunden Jesu"
Johannes 20, 24-29
24 Thomas aber, einer der Zwölf, der Zwilling genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich's nicht glauben. 26 Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! 27 Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28 Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29 Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
Liebe Gemeinde,
ich habe ja schon einige Male über diesen Bibeltext gepredigt. Doch ist mir dieses Jahr beim Lesen der Osterevangelien ein Aspekt in dieser Begegnung aufgefallen, der mir noch nie so aufgefallen ist und den ich heute aus diesem Bibelabschnitt herausgreifen möchte.
Thomas bittet Jesus "Ich möchte deine Wunden sehen und berühren". Üblicherweise wird diese Bitte so ausgelegt, dass hier der Zweifel von Thomas zum Ausdruck kommt. Er will nur an Jesus glauben, wenn er einen handgreiflichen Beweis dafür hat, dass hier wirklich Jesus vor ihm steht. Seine Bitte um Berührung von Jesu Wunden wird ihm also negativ ausgelegt.
Könnte man aber diese Bitte nicht auch ein wenig positiver verstehen als echtes Interesse an Jesus? Dieser Gedanke ist mir dieses Jahr beim Lesen gekommen. Thomas will die Wunden Jesu sehen und sogar berühren. Ich dagegen scheue mich sehr, Wunden anzusehen oder gar noch zu berühren. Im Pschyrembel oder anderen Krankenpflegebüchern gibt es unzählige Bilder von fürchterlichen Krankheiten oder Wundausprägungen. Ich kann mir solche Bilder nicht anschauen. Und ich könnte auch nie Krankenpfleger oder Arzt werden. Manche Menschen können nicht einmal Blut sehen. Doch Thomas bat Jesus darum, ihm seine Wunden zu zeigen. Thomas wandte sich nicht vom Anblick der Wunden Jesu ab, sondern er wandte sich Jesus zu, und zwar ganzheitlich zu. Er wollte nicht nur einen gesunden, auferstandenen, siegreichen Jesus sehen und all das Leid ausblenden, das ihm zugefügt worden ist. Er hatte den Mut, auf Jesu Wunden und sein Leiden zu schauen, denn das gehört untrennbar zu Jesus dazu.
Ich habe mich bei der Vorbereitung auf diese Predigt ganz naiv gefragt: Wie haben wohl diese Wunden Jesu damals ausgesehen an seinem Auferstehungskörper? Wir wissen es ja nicht. Aber in der Malerei werden sie in der Regel wie längst verheilte und recht harmlos wirkende Wunden dargestellt. Da gibt es keine Blutrückstände oder hässlichen Schorf oder irgendetwas Unansehliches, sondern alles wirkt eher verheilt und klinisch rein.
Aber, so frage ich mich, sehen so Wunden aus, die auf erschreckendste Weise vor einer Woche einem Menschen zugefügt worden sind? Peitschen mit scherbenbestickten Enden hatten die Haut Jesu am ganzen Körper aufgerissen. Bleistiftdicke Nägel wurden durch seine Hände bzw. wahrscheinlich seine Handgelenke getrieben und das ganze Gewicht seines Körpers hing stundenlang an diesen klaffenden Wunden. Und dann wurde ein breite Speerspitze in Jesu Seite getrieben. Und all das geschah nicht in der Sauberkeit und Sterilität eines Operationssaales, sondern schweißgebadet, dreckverschmiert und blutüberströmt hat Jesus am Kreuz gehangen. Waren seine Wunden wirklich so klinisch rein, wie sie oft in Auferstehungsmalereien dargestellt werden?
Klar könnte man jetzt sagen: "Bestimmt hatte Jesu Auferstehungsleib diese Hässlichkeit dieser Verletzungen hinter sich gelassen und war nach Ostern gewissermaßen wie neu geworden. Die Wunden hatten nach seiner Auferstehung keine Bedeutung mehr."
Aber warum legte Jesus dann immer so viel Wert darauf, dass er als Auferstandener ausgerechnet an seinen Wunden zu erkennen war. Auch den anderen Jüngern zeigte er acht Tage vor Thomas als erstes seine verletzten Hände und seine Seite.
Warum waren überhaupt Wunden sein Erkennungsmerkmal? Es hätte doch auch sein Gesicht oder seine Stimme oder von mir aus ein Strahlenkranz auf seinem Haupt sein können. Aber nein, es waren seine Wunden, an denen man ihn erkennen sollte. Und vielleicht waren diese Wunden wirklich immer noch hässlich und fürchterlich anzuschauen. Vielleicht erinnerten diese Wunden wirklich noch einmal an diese scheußlichen Qualen, die man Jesus zugefügt hatten.
Viele Christen wollen vor allem den siegreichen Auferstandenen sehen und an ihn glauben. Doch der Auferstandene bleibt trotzdem immer auch noch der Schmerzensmann, der an einem Kreuz gehangen hat.
Thomas imponiert mir. Er konnte an den Auferstandenen nur glauben, wenn er auch seine Wunden sehen und berühren durfte. Er wollte keine leuchtende Himmelsgestalt anbeten, sondern nur den echten, den realen Jesus, mit dem er jahrelang gelebt und seine wirkliche Persönlichkeit kennengelernt hatte. Und zu dieser Persönlichkeit Jesu gehörte ganz wesentlich seine Verwundbarkeit, sein Verwundbarkeit aus Liebe zu den Menschen. "Durch seine Wunden sind wir geheilt" heißt es in Jesaja 53.
"Jesus, ich möchte deine Wunden sehen und berühren" - Mit dieser Bitte ging es Thomas nach meiner Überzeugung vor allem um die Identität Jesu. Der wahre Auferstandene musste für ihn eine klare Verbindung zum irdischen und gekreuzigten Jesus haben. Er wollte nur an den Auferstandenen glauben, wenn er sah, dass er weiterhin derselbe geblieben ist - der, der sich um der Liebe willen hat verwunden lässt.
Und Thomas wollte die Wunden Jesu nicht nur sehen, sondern auch sorgsam berühren. Er zeigt damit, dass ihn das weiterhin berührt, was Jesus zugefügt worden ist. Er lässt sich von Jesu Schmerz berühren.
Und genau das hat Thomas von Jesus gelernt: Wie wichtig es ist, dass wir uns vom Schmerz anderer Menschen berühren lassen. Jesus hatte das seinen Jüngern genau so vorgelebt, dass er den Menschen in ihrem Leiden ganz nah gekommen ist und sie berührt hat.
Da sah Jesus z.B. im Vorübergehen einen Menschen, der von Kind auf blind war. Während diese Behinderung für seine Jünger nur ein Anlass für eine theologische Diskussion war, wer an dessen Krankheit schuld sei, ging Jesus auf den Blindgeborenen zu und kam ihm ganz nah. Er rührte aus Erde und Speichel einen Brei und strich diesen auf dessen Augen. Er berührte damit zärtlich die Wunde seines Lebens und das löste einen Heilungsprozess beim Blindgeborenen aus, so dass er sehend wurde. Das hat Thomas gesehen und miterlebt.
Und Thomas hat bei Jesus auch gesehen, wie er in das Viertel der Unberührbaren gegangen ist, den Aussätzigen, den Leprakranken. Ihre Körper war manchmal nur noch eine einzige Wunde gewesen. Und alle sagten: Berühren verboten! Doch Jesus hat diese Menschen berührt und durch seine Berührungen sind sie heil geworden.
Jesus hat sich von den Wunden der Menschen berühren lassen und zugleich hat Jesus die Wunden der Menschen heilend berührt.
Es ist doch wunderbar, dass Thomas nun gegenüber dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus als erstes die Bitte äußert: Ich möchte deine Wunden berühren! Das war eigentlich eine Bitte ganz nach dem Herzen Jesu.
Der Theologe Heinrich Spaemann hat einmal eine gute Frage gestellt: "Warum zeigte Jesus eigentlich den Jüngern seine Wunden und eben nicht Narben, also überwundene, verheilte Wunden?" Seine Antwort leuchtet mir sehr ein: „Ich denke, er will uns deutlich machen, dass sein Leiden, seine Passion fortdauert.“
Jesus leidet weiterhin mit allen Menschen mit, die leiden. Jesus hat auch jetzt in diesem Moment Mitleid mit uns, wenn uns das Leben quält. Er spürt unsere Schmerzen, er spürt unsere Trauer, er spürt unsere Verzweiflung, er spürt unsere Kränkungen, er spürt unsere Überforderung, er spürt unsere Depression, er spürt unsere Sorgen, er spürt unsere Angst. Jesus leidet weiterhin mit allen Menschen mit, die leiden, darum trägt er als der Auferstandene auch weiterhin Wunden an seinem Körper. Sie kennzeichnen sein Wesen als Immanuel - als Gott mit uns, Gott wirklich an unserer Seite. Die Wunden sind Ausdruck seiner liebenden Nähe zu allen Menschen.
Was heißt das alles für uns? Zwei Aspekte sind mir wichtig:
Erstens: Wir können Jesus nicht mehr wie Thomas sehen und berühren. Jesus war in dieser physisch präsenten Weise nach Ostern nur noch 40 Tage auf dieser Erde. Dann wurde er ganz in die unsichtbare, göttliche Sphäre aufgenommen. Wir bezeichnen das als Himmelfahrt. Manche denken, dadurch wäre Jesus nun weiter weg. Aber das Gegenteil ist geschehen: Jesus ist uns noch näher gekommen. Dieser Himmel, in den er aufgenommen wurde, ist nichts anderes als die unsichtbare, göttliche Welt, die uns umgibt - zu allen Zeiten und von allen Seiten. Jesus ist im Himmel, das heißt, er ist uns auch jetzt auf verborgene Weise nahe, umschließt geheimnisvoll die Wirklichkeit unseres Daseins. Das zu wissen ist schon gut.
Aber wir wissen nun auch, dass es der Jesus mit den Wunden ist, dessen Gegenwart uns umgibt. Und diese Wunden machen uns deutlich, dass Jesus auch jetzt all unsere Verwundungen und Verletzungen, unsere Krankheiten und Beeinträchtigungen kennt und uns darin herzensnah ist. Wir dürfen ihm unsere Wunden hinhalten, egal, ob sie nun körperlicher Art oder seelischer Art sind. Jesus will uns gerade an diesen wunden Punkten unseres Lebens berühren und uns seine tröstende und heilende Nähe schenken.
Das ist das eine, das mir wichtig ist. Das Zweite:
Lasst uns auch einander wahrnehmen in unseren Verwundungen. Auch und gerade in der Gemeinde. Nicht wegschauen, wenn jemand leidet, sondern hinschauen, nachfragen, sich berühren lassen, begleiten. Ich weiß, dass das in dieser Coronazeit besonders schwer ist. Zugleich ist es aber auch gerade jetzt besonders wichtig, dass wir Wege finden, wie wir denen nahe sein können, denen es nicht gut geht.
Als Gemeinde verkörpern wir Jesu Leib. Es ist ein Leib mit Wunden. Da sind Menschen, die kämpfen momentan schwere Kämpfe, da sind Menschen, die sind sehr einsam, da sind Menschen, die haben existenzielle Sorgen, da sind Menschen, denen macht die Trauer schwer zu schaffen, da sind Menschen, deren Seele verwundet ist, da sind Menschen, die unter der Last ihrer Arbeit schier zerbrechen, da sind Menschen, die mit einer Krankheit kämpfen, da sind Menschen, die keine Perspektive mehr sehen. Jesu Leib trägt viele Wunden. Bei uns und erst recht auch in der ganzen Welt. Hungernde, Flüchtende, Opfer von Kriegen und Terror.
In der Gemeinde wollen wir lernen, die Verwundungen der anderen wahrzunehmen und uns davon berühren zu lassen. In der Seelsorge mache ich immer wieder die Erfahrung, wie wichtig es ist, das Menschen ihre Sorgen, ihre Last, ihre Ängste einfach einmal nur aussprechen können. Sie brauchen gar keine klugen Ratschläge, sie brauchen gar kein großes Hilfsprogramm, sie brauchen oft einfach nur jemanden, der ihnen zuhört, sie wahrnimmt, der sich von ihrem Leid berühren lässt.
So viele Menschen besuchen ihren Hausarzt und erfahren dabei Hilfe. Aber wisst ihr, was manchen bei ihrem Arztbesuch schon hilft? Es ist gar nicht unbedingt das Medikament, das am Ende verschrieben wird. Sondern es ist die sorgende Zuwendung, die sie dort erfahren. Es ist diese empathische Arzt, der sich Zeit für sie nimmt, der sie wahrnimmt, der ihnen zuhört und sie dort berührt, wo´s wehtut.
Lasst uns auch so in der Gemeinde miteinander umgehen. Lasst uns Wege finden, wie wir auch in dieser Zeit, wo wir auf Distanz gehen sollen, dennoch füreinander da sind und uns berühren lassen von Ergehen des anderen. Amen
GEBET
Lieber Herr Jesus Christus, danke, dass du da bist. Wir sehen dich nicht, wir können dich nicht spüren wie Thomas damals, aber wir glauben an deine Gegenwart. Und du siehst uns und bist uns ganz nah in diesem Moment. Du siehst und spürst uns auch in den wunden Punkten in unserem Leben. Du siehst diejenigen, die momentan einen ganz schweren Weg zu gehen haben. Du siehst die Verwundungen und Verletzungen, die Sorgen und Ängste, die sie dir entgegenhalten. Danke, dass du als der gute Hirte an ihrer Seite bist.
Mit allen Christen in der Ökumene wollen wir heute besonders für die beten, die dem Coronavirus zum Opfer gefallen sind. Wir beten für alle, die um sie trauern und nun ohne sie zurechtkommen müssen. Wir beten für die, die akut an Covid19 erkrankt sind. Vor allem für die, die auf den Intensivstationen um ihr Leben kämpfen. Wir beten für diejenigen, die sich um sie kümmern, für die erschöpften Pflegenden und Ärzte. Wir bitten dich um dein Erbarmen in der Gesamtsituation, in der wir uns befinden. In unserem Land, aber auch weltweit. Segne alle Bemühungen im Kampf gegen das Virus. Schenke aber auch in allem ein neues Fragen nach dir und deinem Heil.
VATERUNSER