Text der Predigt am 1. Weihnachtstag - 25. Dezember 2020

"Kein Abstand an der Krippe"

"Abstand halten", das ist eines der großen ungeliebten Schlagworte der letzten Zeit geworden. Überall werden wir ermahnt, Abstand zu halten, um ja dem fiesen Virus keine Chance zu geben. Wenn ich Gemeinde-Bilder aus den letzten Jahren betrachte, etwa von einer fröhlichen Überraschungskirche oder von einem vollen Gottesdienstraum, dann kann ich es kaum glauben, dass wir damals so engen Kontakt zueinander hatten. Fast will in mir Empörung aufkommen beim Anschauen dieser Bilder - "das darf man doch nicht!" - so sehr habe ich mich schon an das oberste Gebot unserer Zeit gewöhnt: "Abstand halten!"

Und dann schaue ich die Krippendarstellung auf unserem Abendmahlstisch an und denke: Die halten ja eigentlich auch viel zu wenig Abstand dort ein an der Krippe! Heute würde man wahrscheinlich gelb gestrichelte Markierungen vor der Krippe anbringen, um festzulegen, wer sich wo anstellen darf, um irgendwann das Jesuskind zu betrachten oder sein Geschenk abzulegen...

Aber Spaß beiseite: Mich hat das nachdenklich gemacht, dass es in den meisten Krippendarstellungen ziemlich eng und kontaktfreudig zugeht. Da kniet der Hirte direkt neben dem König aus dem Morgenland und das Schaf steht im Körperkontakt zum Esel und es ist, als wenn alle so eng wie möglich zusammenrücken würden, um dem göttlichen Kind ihre Ehrerbietung zu geben. "Kein Abstand an der Krippe" das scheint das Motto an Weihnachten zu sein.

Und ich glaube, dieses Motto umschreibt auch gut das Geheimnis dessen, was da an Weihnachten geschehen ist und immer noch geschieht. Die Abstände werden kleiner, je näher wir zum Kind kommen. Der Abstand zwischen den Menschen, die Jesus Christus als ihren Herrn anbeten und auch der Abstand zwischen Gott und uns, der uns in Jesus den Immanuel, den "Gott mitten unter uns", geschenkt hat.

Betrachten wir beide Aspekte.

Zunächst das, was in der Nähe Jesu mit dem Abstand zwischen Mensch und Mensch geschieht

In den meisten klassischen Krippenszenen finden wir die Hirten zusammen mit den Königen aus dem Morgenland dargestellt. Diese erdverbundenen Naturburschen stehen direkt neben den noblen Sterndeutern in ihren extravaganten Gewändern und Hüten. Dabei ist das eigentlich gar nicht so richtig biblisch, dass beide gemeinsam an der Krippe auftauchen.

Die Geburtsgeschichten Jesu finden sich im Matthäusevangelium und im Lukasevangelium. Und beide Evangelisten legen ganz unterschiedliche Akzente in ihren Berichten. Während es im Lukasevangelium die Hirten sind, die - ausgelöst durch eine Engelerscheinung - zur Krippe eilen, fehlen diese im Matthäusevangelium gänzlich. Dafür wird uns bei Matthäus von den Sterndeutern aus dem Orient erzählt, die den neugeborenen König aufgrund ihrer Berechnungen und aufgrund alter Prophetenworte ausfindig machen. Diese Sterndeuter fehlen allerdings nun wieder im Lukasevangelium.

Waren beide Personengruppen zur selben Zeit an der Krippe? Fanden Hirten und Könige zur selben Zeit den neugeborenen Messias im Stall von Bethlehem? Die Tradition hat es mit der Zeit so sehen wollen. Aber vom biblischen Text her könnte man auch von der Version ausgehen, dass die Hirten und die Könige zu ganz unterschiedlichen Zeiten das Kind besucht hatten.

Aber mal ehrlich: Das ist doch viel schöner und aussagekräftiger, wenn beide so unterschiedlichen Menschentypen gleichzeitig im Stall von Bethlehem stehen und zusammen finden, um gemeinsam dem neugeborenen König die Ehre zu erweisen. Die Abstände von Mensch zu Mensch werden kleiner, je näher wir zum Kind in der Krippe kommen.

Hirten waren gesellschaftlich gesehen ganz unten angesiedelt. Die Sterndeuter aus dem Orient stellten genau das Gegenteil dar. Wenn Lukas in seinem Evangelium davon erzählt, dass diese einfachen Hirten die ersten waren, die in Jesus den Retter der Welt erkannten, dann macht er damit deutlich, dass Jesus für alle gekommen ist. Nicht nur für die Hochangesehenen und ordentlich Frommen, sondern auch zu denen - ja, vor allem zu denen- , auf die man so gerne verächtlich herabsah und sie als geistlich minderbemittelt einschätzte.

Einen anderen Aspekt zeigt uns dann Matthäus: Wenn er uns von den Weisen aus dem Morgenland erzählt, dann macht er uns klar, dass Jesus für alle Welt gekommen ist. Für Juden und für Heiden. Schon an der Krippe wird offenbar, dass Jesus der universale Retter ist.

Und jetzt stehen in unseren Krippendarstellungen in der Regel beide, Hirten und Könige, gemeinsam an der Krippe. Ist das nicht ein schönes Zeichen? Streng biblisch gesehen ist das nicht so ganz korrekt, aber streng biblisch gesehen ist das eben genauso richtig. Denn das ist das, was Jesus durch sein ganzes Leben gezeigt und bewirkt hat: Dass die unterschiedlichsten Menschen durch ihn zusammenfinden.

Jesus berief z.B. Zöllner und Zeloten gemeinsam in seinen Jüngerkreis. Simon, den Kanaanäer und Matthäus, den Zöllner. Beide waren eigentlich von ihrer politischen Ausrichtung her Feinde. Der eine ein jüdischer Widerstandskämpfer, der die Römer hasste, der andere Römerfreund und Kollaborateur mit der römischen Staatsmacht. Doch je mehr sie sich Jesus und seiner Lebensweise näherten, desto mehr schwand der Abstand zwischen ihnen. Und genau das geschah auch zwischen vielen anderen, unterschiedlichsten Menschentypen, die zu Jesus fanden.
Das galt dann übrigens auch als wesentliches Merkmal in den Gemeinden, die sich nach Jesu Tod und Auferstehung nach ihm nannten. In der christlichen Kirche zählte plötzlich nicht mehr, ob du Hirte oder Philosoph bist, Sklave oder Herr, Jude oder Heide, Mann oder Frau. Nein, vereint stand man am Tisch des Herrn. "Einer ist euer Meister," sagte Jesus, "ihr aber seid alle Brüder und Schwestern." (Mt. 23,8) Der Glaube an Jesus Christus vereint uns zu einer Gemeinschaft, in der die Unterschiede der Welt nicht mehr zählen dürfen.

"Ohne Abstand an der Krippe" - das könnte deshalb auch ein gutes Motto für uns heute sein. Wo bauen wir heute vieleicht Mauern auf zwischen Mensch und Mensch, Christ und Christin? Wo betonen wir mehr das Trennende, anstatt das Gemeinsame zu suchen? Jesus will, dass wir in ihm eins sein sollen. Evangelikale und Liberale, Alte und Junge, Gesangbuchliederliebhaber und Lobpreisfans, Konservative und Innovative, Grüne, Schwarze und Rote. Je mehr wir uns dem Kind in der Krippe nähern, desto mehr werden wir auch zusammen finden - und der Abstand zueinander schmilzt. Je mehr wir uns von Jesus entfernen, desto mehr werden wir auf das Trennende schauen.

Kein Abstand an der Krippe. Lasst uns nun den zweiten Aspekt dieser weihnachtlichen Anordnung anschauen. An der Krippe schmilzt nicht nur der Abstand von Mensch zu Mensch, sondern auch von Gott zu uns und von uns zu Gott.

"Und das Wort wurde Fleisch und wohnte mitten unter uns" , so klingt das Weihnachtsevangelium beim Evangelisten Johannes. Er erzählt uns nichts von Maria und Joseph, nichts von Hirten und von Königen, nichts von einem Kind in der Krippe und vom Stall in Bethlehem. Stattdessen drückt er in hoch philosophischen Begriffen aus, was da in der Heiligen Nacht geschehen ist.

"Der göttliche Logos wurde Fleisch." Was sich für uns heute gar nicht so anstößig anhört, muss für Menschen damals skandalös geklungen haben, die in der griechischen Philosophie und Denkweise beheimatet waren. Die Götterwelt war für sie eine komplett abgehobene Welt gewesen, eine Welt die keinen Bezug zu den irdischen Niederungen hatte. Das Ideal eines Gottes war für die griechischen Denker ein a-pathischer Gott. Wörtlich übersetzt bedeutet apathisch "ohne Gefühl". Die Götter interessieren sich nicht für die Menschen, noch weniger haben sie Mitgefühl oder Mitleid mit ihnen. Mitleid würde nämlich bedeuten, dass die Götter schwach sind, weil sie sich von unserem Ergehen beeinflussen lassen. Nur ein apathischer Gott ist ein starker Gott. Nur ein gänzlich abgehobener Gott ist ein richtiger Gott.

Und dann kommt Jesus. Und dann erreicht uns die Botschaft, dass in ihm der göttliche Logos Fleisch wurde, dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde, um an unsere Seite zu kommen, um unsere menschliche Existenzweise mit uns zu teilen, um verletzlich und mitfühlend zu sein. Das stellte alle traditionellen griechischen Gottesvorstellungen auf den Kopf. Das wäre ja gar kein a-pathischer Gott mehr, sondern ein .... sympathischer Gott! Sympathisch im wörtlichen Sinn - griechisch: "sym - pathein" - "mitfühlen". In Jesus schmilzt der Abstand von Gott zu Mensch gegen Null. "Gottheit und Menschheit vereinen sich beide;" heißt es in einem alten Lied. "Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah! Himmel und Erde, erzählet´s den Heiden: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freuden."

An Weihnachten geschieht wirklich etwas Geheimnisvolles zwischen der göttlichen und der irdischen Welt. In dieser Krippe, in der das Baby Jesus liegt, verbinden sich beide Welten und schaffen einen Ort, an dem der Himmel auf Erden kommt und sich zugleich für uns Irdische öffnet. Und das gilt nicht nur für die ersten Lebensstunden des neugeborenen Gottessohnes. Das gilt für das ganze Leben von Jesus. Und es gilt am ausdrucksstärksten an diesem Kreuz auf Golgatha, an dem Jesus schließlich sein Leben für uns dahingab. Durch sein Leben und Sterben hat Jesus den Weg in Gottes ausgebreitete Arme geöffnet. Das Kreuz, an dem Jesus sein Leben ließ ist für uns eine Brücke geworden, auf der sich uns der Weg in den Himmel öffnet. Jesus hat den Abstand zwischen Gott und uns überbrückt. Das ist die wundervolle Botschaft von Weihnachten.

Darum wollen wir uns freuen, dass das Abstandsgebot an der Krippe nicht gilt und uns ganz nah zu dem stellen, der Weg, Wahrheit und Leben ist.
Amen

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