Leben bis wir Abschied nehmen

Brustbild von Gudrun Kunstmann mit einer Vortragsmappe in der HandAls ich 1998 mit 62 Jahren in unserer Gemeinde den Seniorenkreis übernahm, war mir bald klar, dass ich wohl auch eine Qualifizierung zur ehrenamtlichen Hospizbegleiterin machen sollte. Die Senioren halfen mir beim eigenen Altwerden und ich wollte an ihrer Seite sein auch bis an die Schwelle des Todes.

Eine erste Qualifizierung hatte in unserer Stadt Bad Soden bereits im Jahr zuvor stattgefunden und es hatte sich eine ambulant arbeitende Hospizgruppe gebildet. Mein Kurs folgte in etwas abgewandelter Form dem so genannten Celler-Modell, ihm liegt der christliche Ansatz zu Grunde. Es geht darum, die verloren gegangene Ars Moriendi, die Kunst des Sterbens, wieder aufleben zu lassen.

Bei den ersten Treffen in der Gruppe der Auszubildenden ging es unter der Leitung einer Familientherapeutin um eine Klärung in mir, eine Art Selbsterfahrung zu den Themen von Leben und Tod. Es ging nicht darum ein gewisses Handwerkszeug im Wissen zu erwerben, denn Sterbebegleiter gehen mit anderen durch die letzte Lebensphase. Das ist die Zeit von Bilanz, Versöhnung und Abschied. Als Handlungsanweisung gibt es nur: hingehen, zuhören, reagieren. Mit den Patienten die gleiche Frequenz suchen und eintauchen in seine Welt, das ist der Sinn. Es wird kein Know-how des Sterbens vermittelt, der Kurs ist eine Schule zur Vorurteilslosigkeit.

Sterbende brauchen ein stabiles Gegenüber. Wer psychisch mit sich im Einklang ist, kann ihnen unbefangen und frei begegnen. Am Lebensende spüren Menschen Ängste und Befürchtungen des anderen schnell, und sie spüren, ob du echt bist. Sterbebegleitung ist ein Umgang auf Augenhöhe, es ist ein Geben und Nehmen. Die Lebenden schließen den Toten die Augen - die Toten öffnen den Lebenden die Augen.

Unterricht
»Jeder der geht belehrt uns ein wenig über uns selber. Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten. Alle Spiegel so klar wie ein See nach großem Regen, ehe der dunstige Tag die Bilder wieder verwischt. Nur einmal sterben sie für uns, nie wieder.
Was wüssten wir je ohne sie?«
Hilde Domin

Ich habe viel über das Leben gelernt in meiner Hospizarbeit und bin allen Menschen, die ich begleiten durfte, unendlich dankbar. Sechzehn Jahre bin ich jetzt in diesem sehr erfüllenden ehrenamtlichen Dienst.

Eine Begleitung möchte ich noch schildern. Im Oktober 2011 besuche ich Frieda, eine 87-jahrige kinderlose alleinlebende Patientin. Sie wird von einer Türkin liebevoll daheim gepflegt. Dieser türkischen Frau hatte Frieda Haus und Herz geöffnet, sie hat ihr das kleine Haus geschenkt, und die beiden Frauen leben zusammen wie Mutter und Tochter. Die muslimische Frau merkt, dass sie der Kranken keinen seelischen Beistand leisten kann, deshalb hatte sie sich um eine Begleitung durch die Hospizgruppe bemüht.

Frieda ist bettlägerig, fast blind und spricht nur kurze Sätze. Zweimal die Woche besuche ich dieses friedvolle Haus und bin beschenkt durch das umfassende Vertrauen, das mir entgegengebracht wird. Die Pflegerin kennt wenig von Friedas Biografie und Frieda erzählt nicht mehr. Wie können wir kommunizieren? Ich sitze am Bett erzähle von mir und singe. So läuft es jedes Mal. Frieda hört zu und lächelt entspannt. Nach mehreren Volksliedern fasse ich Mut und singe geistliche Lieder. Da passiert das Wunder. Bei dem Lied: »Weiß ich den Weg auch nicht« (EM 379) bewegt Frieda die Lippen passend zu allen drei Strophen! Nun ist es klar: Frieda ist eine gläubige Frau!

Jetzt kann ich meine Begleitung ganz selbstverständlich auf den Glauben ausrichten, Frieda hat es sich so »gewünscht« und sie darf nach fast einem Jahr schwesterlichen Miteinanders endlich heimgehen. Die türkische Tochter war in alles mit hinein genommen und wir sind bis heute freundschaftlich verbunden.

»0 Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Denn wir sind nur die Schale und das Blatt. Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht.«
Rainer Maria Rilke

Sterbebegleitung hat mich verändert und mich zu einem stärkeren Menschen gemacht. Ich denke, je früher man die eigene Sterblichkeit spürt und sich ihr stellt, desto besser gelingt ein gutes Leben.

Gudrun Kunstmann
(auch erschienen in „Frauenwege“ 4/2016)

Zurück